„Verdammt, das zu durchleben“

Über Tote, so besagt eine alte Lebensweisheit, solle man nichts sagen außer Gutes. Zumindest nichts Böses. Besonders infam ist es, wenn Tote nachträglich als nicht ganz zurechnungsfähig oder psychisch krank hingestellt werden. In diese Richtung geht aber, was die Frankfurter Allgemeine nun mit Thomas Schäfer (CDU) macht, dem hessischen Finanzminister, der sich am vergangenen Samstag nach bisherigem Ermittlungsstand selbst umgebracht hat. Die Traditionszeitung aus der hessischen Metropole, die sich heute oft liest wie ein Regierungsblatt, verhielt sich in der Causa Schäfer von Anfang an sehr merkwürdig. Will sie ablenken von Schäfers kaum bekannter, letzter Rede, deren politischer Sprengstoff gewaltig ist (siehe weiter unten hier im Wortlaut)?

In einem ersten Bericht war am vergangenen Sonntag von möglichen Motiven für den Selbstmord des Ministers die Rede. In Windeseile war die entsprechende Stelle dann klammheimlich wieder gelöscht – möglicherweise wegen großen Brisanz der Informationen. Ich hatte die alte Version via google wiederherstellen können und berichtete über die Streichung. Dort stand, der Minister habe in einem Abschiedsbrief Gründe für seinen Suizid genannt: „Dem Vernehmen nach soll Schäfer darin von einer ,Aussichtslosigkeit´ gesprochen haben, die er gesellschaftlich, aber auch bezogen auf die wirtschaftliche Lage des Landes sehe. Diese Aussichtslosigkeit habe er unter anderem konkret auf die derzeitige Situation bezogen, die ihm offenbar ,zu schaffen’ gemacht habe.“

„Ich muss davon ausgehen, dass ihn diese Sorgen erdrückt haben“, sagte später Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier über den Finanzminister, der auch als sein möglicher Nachfolger gehandelt wurde. Jetzt versucht Jasper von Altenbockum, der mit seinen Berichten regelmäßig wirkt wie Merkels verlängerter Arm in der FAZ-Redaktion, die Situation auf eine derart dreiste Art und Weise umzuinterpretieren, dass für alle, die zwischen den Zeilen lesen können, deutlich wird, wie hoch das Thema offenbar aufgehängt ist. Schon der Untertitel ist bezeichnend: „Warum es nicht die Corona-Krise war, die Thomas Schäfer in den Tod trieb“. Mich machte ein Bekannter, ein früherer Spitzenbeamter, genau in diesem Sinne auf den Artikel aufmerksam: „Wenn man hinterrücks einem Toten so übel etwas reinwürgt, scheint mächtig Dampf im Kessel zu sein.“

Seit Schäfers Tod gäben „nicht Horrorszenarien, sondern Hoffnungen den Ton an“, heißt es beschwichtigend in dem Artikel. Die Entwicklung in Südkorea und China böte Grund zum Optimismus, schreibt der merkeltreue Journalist – ohne den geringsten Hinweis, dass die Entwicklung in Deutschland eben nicht mit der in den beiden asiatischen Ländern zu vergleichen ist.

Weiter steht in dem Bericht: „Es besteht kein Grund anzunehmen, dass einem Politiker wie Thomas Schäfer, der seit Jahren unter hohem Leistungsdruck erfolgreiche Politik gemacht hat, das alles“ – also die vermeintliche Wende zum Guten – „entgangen und eine realistische Beurteilung der Lage völlig fremd gewesen sein soll. Wenn doch, liegt diese Fehleinschätzung nicht in der Krise selbst. Es ist unwahrscheinlich, dass Schäfer mehr wusste als alle anderen und deshalb annehmen musste, die Lage sei trotz aller Maßnahmen, die schon ergriffen wurden, aussichtslos.“

Weiter schreibt von Altenbockum: „Auf Schäfer lastete die Aufgabe der Krisenbewältigung zudem nicht allein… Auch wenn es Schäfer in seinem Abschiedsbrief vielleicht anders darstellen wollte: Es spricht so gut wie alles dagegen, dass es tatsächlich die Corona-Krise war, die ihn ,erdrückte´.“ Hier wird also Schäfers Abschiedsbrief, den die FAZ zuerst verheimlichen wollte, nun im Nachhinein umgedeutet und indirekt unterstellt, der Tote habe mit ihm vertuschen bzw. von etwas ablenken wollen. Sodann folgt eine rhetorische Frage: „Wäre es nicht angemessen, ja geboten gewesen, wenigstens anzudeuten, dass alles dafür spricht, es habe ganz andere Gründe für Schäfers Verhalten gegeben als die Corona-Krise? Dass es gar keinen Grund gibt, schon gar nicht für Schäfer, von den Sorgen über die Corona-Krise erdrückt zu werden?“ Und weiter: „Das würde nicht nur die Dramatik der Corona-Krise zurechtrücken. Es würde vor allem dem Politiker und Amtsträger Thomas Schäfer gerecht werden – er hätte die Corona-Krise ebenso meistern können wie alle anderen. Allerdings würde die Privatsphäre des Ministers – wenn dessen psychische oder physische Gesundheit so genannt werden sollen – für einen kurzen Augenblick in die Öffentlichkeit geschoben.“

Hier wird also ein Toter nachträglich als psychisch und physisch krank dargestellt, um seine politischen und wirtschaftlichen Warnungen als Humbug zu entwerten.

Unter den Tisch gekehrt wird in dem Artikel die letzte Rede von Schäfer vor dem hessischen Landtag wenige Tage vor seinem Tod. Auch in den meisten anderen Medien ist davon nicht oder allenfalls am Rande zu lesen. Dabei hatte es diese Rede, die der Minister noch vor seinem Tod auch auf facebook veröffentlichte (anzusehen hier) in sich: ihre politische Sprengkraft ist gewaltig. Schäfer, den persönliche Bekannte als integren Menschen schildern, nennt die Corona-Krise darin eine „Jahrhundertaufgabe, die sich nicht auf die Generation von Menschen beschränken wird, die jetzt verdammt sind, diese Krise durchleben zu müssen.“ Ich halte die weitgehend unterdrückte Rede für so wichtig, dass ich hier die wichtigsten Punkt wiedergebe:

Wenn man das Vergnügen und die Ehre hat, dieses Amt des Finanzministers in einem Amt wie Hessen schon ein Weile ausüben zu dürfen, es sind jetzt zehn Jahre, dann hat man so manches schon erlebt. Der erste Haushalt, den ich hier einbringen durfte, plante mit einer Netto-Kreditaufnahme von 3,4 Milliarden Euro 2010. Das waren die Auswirkungen der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und der anschließenden Staatschuldenkrise. Jetzt könnte man sagen, na ja, die dreieinhalb Milliarden damals, jetzt nur zwei, alles irgendwie beherrschbar. Aber die Situation ist restlos unvergleichbar.“

Dieses Urteil wiederholt Schäfer dann gleich noch einmal: „Restlos unvergleichbar. Denn die Dimension an ökonomischen und finanziellen Herausforderungen – Sie gestatten mir, dass Sie mich nicht für herzlos halten, wenn ich mich in meiner Haushaltsrede im Wesentlichen mit diesen Fragen beschäftige…damals hatten wir bereits Signale, die dazu führten, dass wir annehmen konnten, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gab, dass wir aus dieser Spirale der ökonomischen Depression dann doch wieder ein Stück schneller herauskommen würden, als das ursprünglich einmal erwartet wurde. Jetzt stehen wir am Anfang einer Entwicklung unbekannter Dimension. Ich sage, dass ist mindestens einmal eine Jahrhundert-Aufgabe, vor der wir stehen, und wo wir keineswegs wissen, mit welcher Dynamik das weitergeht.

Stellen wir uns gemeinsam vor, dass die Dynamik dieser Entwicklung der letzten zwei Wochen so weitergeht. Das Problem ist, dass das epidemologische Grundgeschehen, das dahinter liegt, exponentiellen Charakter hat, und dass nicht auszuschließen ist, dass die Folgewirkung genauso exponentiellen Charakter haben wird. So dass wir alle aufgerufen sind, jedenfalls allen Menschen in diesem Land zu versichern, dass wir alle alles Menschenmögliche tun werden, um größtmöglichen Schaden von den Menschen in diesem Land abzuwenden.“

Auch hier wiederholt sich der Minister: „Alles menschenmögliche zu tun“. Und weiter: „Ich würde nur gerne davor warnen, mit Forderungen wie Garantien für erstens, zweitens, drittens zum jetzigen Zeitpunkt zu arbeiten. Wir alle laufen in eine Entwicklung hinein, ich wiederhole es, die wir nicht absehen können. Und ich glaube, da sind wir klug damit beraten, uns darauf zu konzentrieren, alles in unserer Macht gemeinsam stehende zu tun, aber auch nicht die Hoffnung zu nähren, als sei die Gruppe der politischen Verantwortungsträger in der Lage, zu zaubern. Wir alle wünschen uns, dass wir eine Chance hätten, uns in den Status von vor einem Jahr zurück zu zaubern. Aber das geht leider nicht, wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen.

Wir befänden uns finanzpolitisch in einer „extrem dynamischen Lage“, so der Minister: Entgegen den ursprünglichen Annahmen hätten nicht einmal die Rücklagen von einer Milliarde Euro ausgereicht, um auch nur den ersten Symptomen zu begegnen.

Sodann erlaubt sich der Minister noch einen Tabu-Bruch – weil er in einem Dankeschön an die Abgeordneten ausdrücklich die AfD nicht ausschloss: „Deshalb bin ich sehr, sehr dankbar für die Art, wie wir in den letzten Tagen auch diese Veränderungen gemeinsam erörtert und besprochen haben, und ich sage das ausdrücklich: Ich meine das gesamte Haus, ohne jede Ausnahme, und dafür bin ich dankbar!“

Weiter sagte Schäfer: „Im Moment arbeiten alle im Gesundheitswesen aber auch an den entscheidenden Stellen unserer staatlichen Strukturen noch weitestgehend im Vollbesitz ihrer personellen Ressourcen an der Grenze ihrer Kapazität. Ich kenne viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, von denen bekommen Sie im Moment nachts um 3 Uhr e-Mails. Wir wollen hoffen, dass die alle gesund bleiben, dass der Virus…uns davor verschont, die Leistungsfähigkeit unserer Behörden in einer Risikosituation zu haben, was die Chance der schnellen Hilfe nicht befördern würde.

Es ist eine Jahrhundertaufgabe, die wir gemeinsam vor der Brust haben, und es spricht sehr, sehr viel dafür, dass das Abtragen der Ergebnisse dieser Jahrhundertaufgabe sich nicht auf die Generation von Menschen beschränken wird, die jetzt verdammt sind, diese Krise durchleben zu müssen. Es wird noch viele, viele Generationen brauchen, um diese Jahrhundertaufgabe im Anschluss bewältigen zu können. Ich glaube, das muss uns gemeinsam bewusst sein. Und deshalb haben wir uns von Anfang an verabredet, wenn wir da mal durch sind durch die Krise und wissen, welche Gesamtaufwendung da dahinter steckt, auch in der Relation zum dann noch da vorhandenen wirtschaftlichen Grundpotential…dann darüber zu reden, was wir uns zutrauen, aus heutiger Sicht, auf eine sehr lange Frist wir am Ende auch zurückzahlen können. Fünf Milliarden Steuer-Ausfälle in diesem Jahr allein in Hessen – neben zwei Milliarden zusätzlicher Ausgaben allein akut: „Wir werden ein Delta haben, das wird aus heutiger Sicht irrsinnig sein.“

P.S.: Ich habe mich in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten – wegen der politischen Relevanz. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 800-1110111 oder 800 3344533.


Bild: Martin Kraft/Wikicommons/Lizenz CC BY-SA 4.0, PIXABAY

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