„Bild“: Hetze gegen „Hetzer“

Spiegelung nennt man es in der Psychologie, wenn jemand einem anderen genau das vorwirft, was er selbst tut oder vor hat. Dieses Phänomen ist heute in Medien und Politik allgegenwärtig. Je länger ich die Nachrichten verfolge, um so mehr komme ich zum Schluss, dass diejenigen, die überall Hass und Hetze wittern und gegen diese zu kämpfen vorgeben, am eifrigsten Hass und Hetze verbreiten. Sie fordern Toleranz und zeigen massive Intoleranz. Eine klassische Spiegelung!

Ein besonders drastischer Fall ist jetzt in der „Bild“ zu finden: „Eine widerliche Hetzkampagne“ wirft Deutschlands größte Zeitung dem Baden-Württembergischen parteilosen Landtagsabgeordneten Fiechtner vor – und betreibt diese haargenau selbst. Die Überschrift des „Bild“-Artikels, neben einem Foto, auf dem Polizisten den Volksvertreter (der eine Körperbehinderung am Arm hat) aus dem Parlament tragen: „Bitte, bringt ihn nie wieder zurück“. (Details zu dem Eklat um Fiechtner im Landtag finden Sie in meinem Exklusiv-Interview hier).

Beachtenswert auch, wie in dem Beitrag mit Sprache manipuliert wird. Etwa in der Bildunterschrift: Fiechtner „muss von Polizeibeamten aus dem Landtag getragen werden“, heißt es da. Korrekt wäre: „Polizisten tragen Fiechtner aus dem Landtag“. Faszinierend auch, wie Fiechtners Aussage, die Politiker von CDU, SPD und Grünen im Parlament sollten ins Zentrum von Stuttgart und dort nach den Krawallen die Scherben ihrer Politik zusammenkehren, als ausländerfeindlich abgetan wird – wegen der türkischen Abstammung der Parlamentspräsidentin. Nach dieser Logik dürfte man diese gar nicht mehr kritisieren. Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie in dem Beitrag manipuliert wird. Er ließe sich gänzlich so zerlegen – aber es ist der Mühe nicht wert. Ebenso wie der Versuch der „Bild“, in einem anderen Beitrag in einem vermeintlichen „Faktenchef“ Fiechtners Aussage zu widerlegen, es seien vor allem Migranten bzw. deren Kinder an den Krawallen beteiligt gewesen.

Mit Journalismus hat das nichts mehr zu tun. Das ist nur noch abstoßend. Egal, wie man zu Fiechtner steht. Der provoziert tatsächlich gerne und geht verbal an die Schmerzgrenze. Aber das muss in einer Demokratie erlaubt sein. Umso mehr einem Abgeordneten. Der Grünen-Politiker Joschka Fischer nannte einst den amtierenden Bundestagspräsidenten im Hohen Haus „Arschloch“ – und niemand schmiss ihn aus dem Saal. Auch ein Herbert Wehner und Franz Josef Strauss überschritten gerne die verbale Schmerzgrenze. Ein Parlament ist kein grüner Yoga-Selbstfindungskurs.

Fiechtner selbst kommt in den großen Medien nicht zu Wort, seine Sicht der Eskalation wird den meisten Lesern und Zuschauern vorenthalten – obwohl es ein heiliger Grundsatz des Journalismus ist bzw. war, jeweils beide Seiten anzuhören. Statt ihn wirklich zu befragen, stellen ihm die Bild-Autoren nur eine indirekte Schein-Frage: „Schämt er sich denn gar nicht?“ Schämen sollten sich hier der Autor und die Autorin, Robin Mühlebach und Melissa Seitz, selbst. Da anzunehmen ist, dass sie das nicht tun, schäme ich mich für sie. Sie haben nichts aus der Geschichte gelernt. Und sie hätten in jedem totalitären System große Karrierechancen im Propaganda-Apparat.


Corona trifft uns alle schwer. Auch wirtschaftlich. Auch freie Journalisten. Aber gerade in der Krise sind kritische Stimmen besonders wichtig. Um auf Fehler aufmerksam zu machen, um die Mächtigen im Zaum zu halten. Umso dankbarer bin ich, wenn Sie auch in diesen schweren Zeiten mithelfen können, die Existenz dieser Seite mit Hunderttausenden Lesern und millionenfachen Abrufen zu sichern – auch gegen die juristischen Angriffe, etwa vom ARD-Chef-„Faktenfinder“ Gensing. Ohne Sie geht es nicht!


Bild: Pixabay

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