Impfpflicht und Coronaeinschränkungen in Russland Eine etwas genauere Betrachtung

Von Ekaterina Quehl

Seit der Einführung der sogenannten Impfpflicht in einigen Regionen Russlands sind in den deutschen Medien unterschiedliche, teils umstrittene Informationen zu finden. Ich befinde mich gerade in St. Petersburg und mache mir mein eigenes Bild zum Thema vor Ort.

Angefangen mit Moskau, wurde mit Stand 1.7.2021 inzwischen in 30 Regionen eine Impflicht in Russland eingeführt. Diese Vorgabe ist jedoch keinesfalls einheitlich und ist sehr differenziert zu betrachten. In erster  Linie verpflichtet sie Arbeitgeber aus unterschiedlichen Branchen, eine 60%ige Impfquote für ihre Mitarbeiter binnen einer bestimmten Frist zu erreichen. Moskauer Arbeitgeber bestimmter Branchen müssen etwa die Quote von 60% bis zum 15. Juli 2021 für die erste Impfung und bis zum 15. August 2021 für die zweite bestätigen. Die Bestätigung ist in elektronischer Form an Moskauer Behörden zu übermitteln. In der ersten Linie sind folgende Branchen betroffen:

  • Einzelhandel
  • Medizin
  • Kosmetik- und Wellnessbranche
  • Alltagsservice wie Reinigungen etc.
  • Öffentliche Verkehrsmittel und Taxis
  • Bildung- und Kultureinrichtungen
  • Beamte und Angestellte im Öffentlichen Dienst etc.

In weiteren Regionen Russlands, in denen für Arbeitgeber bestimmter Branchen eine verpflichtende Impfung für ihre Mitarbeiter eingeführt wurde, sind die Regeln ähnlich. Allerdings sind Durchführungs- und Kontrollmechanismen für diese Regeln sehr unterschiedlich. Sie betreffen in der ersten Linie Fristen für Impfungen sowie ggf. Verpflichtung zur Übermittlung der Daten.

So ist beispielsweise in Brjanskaja-Gebiet die erste Impfung bis zum 1. Oktober 2021 durchzuführen, die zweite bis zum 15. November. Im Gegenteil zu Moskau ist hier keine Übermittlung der Daten zu durchgeführten Impfungen an Behörden vorgesehen. Genauso wie in weiteren 19 Regionen Russlands. In St. Petersburg sind überwiegend Beamte und Angestellte im Öffentlichen Dienst betroffen. Für diese muss der Arbeitgeber bis zum 15. August eine solche Impfquote zusichern, bei der bei  65% der Mitarbeiter Antigene festgestellt werden muss. Die genaue Umsetzung ist noch im Gespräch.

In weiteren 15 Regionen, darunter auch die Krim, wird den Arbeitgebern bestimmter Branchen lediglich empfohlen, ihre Mitarbeiter zur Impfung anzuregen.

Anzumerken ist die Situation mit den Mitarbeitern, die sich nicht impfen lassen wollen. Das Gesetz sieht zwar vor, diese von ihrer Tätigkeit fernzuhalten, gekündigt werden dürfen sie aber nicht. Erfahrungswerte für diese Maßnahme gibt es bis jetzt noch nicht, dafür aber schon Panikberichte aus Deutschland.

Was die Einschränkungs-Maßnahmen in Russland angeht, so sind die ebenfalls je nach Region unterschiedlich. In St. Petersburg betreffen die meisten Einschränkungen Großveranstaltungen. Dort ist die Teilnehmerzahl je nach Veranstaltung auf zwischen 40 (Hochzeit in Standesamt) und 3.000 (OpenAir Fan-Zone für EM) begrenzt. Restaurants müssen zwischen 2:00 Uhr und 6:00 Uhr geschlossen bleiben. Theater und Kinos dürfen jeweils zu 75 % bzw. zu 50 % mit Publikum gefüllt sein.

Zwar herrscht an öffentlichen Orten wie in Verkehrsmitteln und Einkaufszentren Maskenpflicht (mit einer Strafe bei Nichtbefolgung von 4.000 Rubel = ca. 46 Euro), dennoch wird sie häufig ignoriert oder nicht wirklich umgesetzt, was ich täglich in St. Petersburg selbst erlebe. Zudem spielt weder die Art der Maske eine Rolle noch wie sie getragen wird. Die meisten Menschen tragen ihre Maske unter dem Kinn oder unter der Nase.

Für über 65-Jährige wurde das Gebot der Selbstisolation mit begrenztem Bewegungsradius ausgesprochen, es wird aber weder eingehalten noch kontrolliert. Auf persönliche Freiheiten erstrecken sich die eingeführten Einschränkungen kaum. St. Petersburger leben ihr ganz normales Leben weiter. Die allgemeine Stimmung ist sehr entspannt und keinesfalls aggressiv. So weisen manchmal Verkäufer im Einzelhandel darauf hin: „Könnten Sie bitte Ihre Maske etwas höher ziehen?“ Das machen sie aber so höflich und freundlich, dass mir fast schon Tränen in den Augen stehen, wenn ich diesen Umgang mit dem in Deutschland vergleiche, der an Aggression kaum zu überbieten ist. In St. Petersburg gibt es viele Kranke und auch Tote, dennoch ändert es nichts an der Grundeinstellung der Menschen hier zu dem Umgang mit dieser Erkrankung und zu ihrem Miteinander.

In Moskau sind die Corona-Maßnahmen viel härter als in St. Petersburg. So sind Moskauer Arbeitgeber seit dem 28. Juni verpflichtet, 30 % ihrer Mitarbeiter (Risiko-Gruppe und über 65-Jährige) in den Homeoffice-Modus zu überführen.

Einige Bereiche sind nun so wie in Deutschland nur für geimpfte, getestete bzw. genesene Personen zugänglich. Als Nachweis gelten QR-Codes. Allerdings betrifft diese QR-Code-Regelung nur Innengastronomie und Veranstaltungen mit über 500 Teilnehmern. Veranstaltungen mit weniger Teilnehmern dürfen ohne die QR-Code-Regelung stattfinden. In Außenbereichen der Restaurants, in Hotels inkl. ihrer Gastronomie, in Theatern und Kinos, in Kosmetiksalons, Fitnesszentren, aber auch in Schulen, medizinischen Einrichtungen und anderen Bereichen gibt es die QR-Code-Regel lt. der offiziellen Seite des Moskauers Bürgermeisters nicht. Bis jetzt (Stand 2.7.2021) wurde die QR-Regel nur in Moskau und im Moskauer Gebiet eingeführt.

Die Einschränkungs-Maßnahmen sind in vielen Regionen sehr unterschiedlich und werden täglich angepasst. So wurde in der letzten Juni-Woche die Anzahl der Regionen mit der Impfpflicht von 18 auf 30 erhöht. Orientiert man sich dennoch an den aktuellen Vorschriften, so sieht das Gesamt-Bild einer Impfpflicht anders aus, als es in manchen deutschen Medien zu lesen ist. Sie betrifft in erster Linie Mitarbeiter bestimmter Branchen, vor allem im Service und im Öffentlichen Dienst. Für Personengruppen wie etwa Freiberufler oder Arbeitslose gibt es aktuell keine Regelung für eine Impfpflicht.

Nicht zu unterschätzen ist es, dass die Regeln zur Impfpflicht nur dann umgesetzt werden können, wenn Ressourcen und Impfstoff-Menge ausreichend vorhanden sind. So berichtete am 29.6 der russische Kanal Doschd darüber, dass der Zentralstab Russlands zur Pandemie-Bekämpfung bereits jetzt ihren Plan, bis zum Herbst eine 60%ige Impfquote zu erreichen, überarbeitet hat und zunächst von einer 30-35%igen Quote ausgehen wird.

Wer das Leben in Russland kennt, weiß genau, dass die Umsetzung von Regeln sehr kreativ sein kann und nicht unbedingt so erfolgt, wie es im Gesetz vorgeschrieben ist. Ein maßgebender Faktor ist in meinen Augen zudem die Art der Einschränkungen und der Umgang mit diesen: Eingeführt zur Reduzierung der Ansteckungen, haben sie keinesfalls die Begrenzung der persönlichen Freiheiten als Selbstzweck. So leben die meisten Menschen hier wesentlich entspannter in der Pandemie, haben keine Angst und verfallen nicht ins Absurde, was sich zum Beispiel auch in der Akzeptanz von kritischen Stimmen spiegelt. Trotz dem aktuell massiven Anstieg der Erkrankten und Toten scheinen der gesunde Menschenverstand und eine positive Lebenseinstellung – mit dem Verständnis, dass Corona nun mal Teil unseres Lebens geworden ist – in Russland der gewählte Weg zu sein.

Diejenigen, die selbst wenig haben, bitte ich ausdrücklich darum, das Wenige zu behalten. Umso mehr freut mich Unterstützung von allen, denen sie nicht weh tut!
Namentlich gekennzeichnete Beiträge von anderen Autoren geben immer deren Meinung wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.

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Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 16 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de und studiert nebenberuflich Design und Journalismus.

Bild: privat
Text: eq
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