Corona-Demos: Lauter „besorgte Bürger“?

Ein Gastbeitrag von Ekaterina Quehl. Die gebürtige Russin lebt seit über 15 Jahren in Berlin.

Außer in den Sowjetzeiten war ich noch niemals auf einer Demo. Und schon gar nicht, auf einer Protest-Demo. In der Sowjetunion – da war es fast immer Pflicht – habe ich als Kind an vielen sogenannten Mai-Demos teilgenommen. Ich kann mich noch an unendliche Menschenzüge erinnern. Stundenlang sind Menschen, angezogen in Sonntagskleidern und mit Nelken in ihren Händen durch die Leningrader Straßen gelaufen. In meiner Erinnerung waren diese Menschen nicht glücklich, denn sie haben aus einer Pflicht heraus „demonstriert“ und nicht aus einer Überzeugung. Weder meine Eltern noch deren Freunde, die mit ihnen zusammen demonstriert haben, konnten sich in irgendeiner Weise mit den sowjetischen Idealen identifizieren und ihre Loyalität zu diesen Idealen in einer Demo bestätigen. Vielmehr hieß es: „Schon wieder diese Zeitverschwendung…“. Als Kind habe ich mich immer zu Tode gelangweilt und konnte nicht verstehen, warum müssen Menschen stundenlang durch die Straßen spazieren, wenn es doch so viele schönere Beschäftigungen gibt.

Ganz anders in den 90er Jahren. Damals sind viele Menschen auf die Straßen gegangen. Sie haben für ihre Rechte und Freiheiten demonstriert. In diesen Zeiten war ich schon etwas älter, aber noch nicht alt genug, um selbstständig zu einer solchen Protest-Demo zu gehen. Vielmehr haben wir als Schüler uns für unsere neuen Freiheiten mit kollektiver Unterrichtsverweigerung oder öffentlichen Auftritten positioniert.

Meine Demo-Erfahrung sieht also sehr bescheiden aus. Aber ich studiere jetzt Journalismus. Und ich habe mir gesagt: Wenn du journalistisch arbeiten willst, musst du dir die Sachen selbst anschauen. Ich wollte herausfinden, was für Menschen in diesen Zeiten auf die Straße gehen, insbesondere diejenigen, die die heutigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kritisch betrachten oder zumindest infrage stellen, weil sie ihrer Ansicht nach unsere demokratischen Grundrechte verletzen und zu massiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen führen. Denn laut der öffentlich-rechtlichen Terminologie müssen solche Menschen ganz schlimme Corona-Kritiker, Corona-Leugner, Corona-Skeptiker und Corona-Verschwörungstheoretiker sein. Und dass sie partout rechts sein müssen – in der oben genannten Terminologie – das ist schon gar nicht mehr erwähnenswert.

Es wurden um die 40 Demonstrationen für den vergangenen Samstag in Berlin angemeldet: Von sogenannten Hygiene-Demonstrationen bis hin zu Gegenprotesten. Ich bin auf mein Fahrrad gestiegen und bin zum Brandenburger Tor gefahren. Kurz vor dem Hotel Adlon musste ich von meinem Fahrrad absteigen, weil Unter-den-Linden mit Absperrgittern abgesperrt war. Vor der Absperrung standen viele Polizisten. Menschen gab es nicht sehr viele. Einige haben die Polizisten mit ihren Handys fotografiert, andere sie darum gebeten, sie durch die Absperrung passieren zu lassen. Das tat ich dann auch und wurde hinter die Absperrung gelassen. Wenige Meter weiter auf Unter-den-Linden konnte ich schon eine Versammlung sehen.

Gefühlt ein paar Hundert Menschen standen vor einer provisorischen Bühne, deshalb konnte ich die sie fast gar nicht sehen. Von der Bühne konnte ich „Ein Bisschen Frieden“ hören. Aus einem Polizeifahrzeug hörte man ca. alle 5 Minuten, dass alle Versammelten sich an die Abstandsregeln halten sollen, dass man sich nicht mehr als 50 Menschen versammeln darf und dass am besten alle nach Hause gehen sollten. Und Menschen – ganz normale Bürger ohne erkennbaren Corona-Leugner oder Corona-Skeptiker-Zeichen wie Alu-Hüte oder „Gibt Gates keine Chance“-Plakate haben mitgesungen, haben die Versammlung mit ihren Handys fotografiert oder haben sich miteinander unterhalten. Hinter der Versammlung befand sich eine weitere Absperrung mit Polizisten und Absperrgittern. Wir befanden uns also auf einer Art Insel, überwacht von einer großen Menge Polizisten.

Plötzlich hörte ich eine Polizeisirene: Ein großes Einsatzfahrzeug musste durch die zweite Absperrung durch fahren in die Richtung des Brandenburger Tors. Weitere Polizisten sind hinter dem Fahrzeug gelaufen. Abgelenkt durch die Polizeisirene habe ich nicht bemerkt, wie zwischendurch sich alle Polizisten in einer Reihe der Straße quer gestellt haben und anfingen, sich ebenfalls in die Richtung des Brandenburger Tors zu bewegen. Die Musik von der Bühne hat aufgehört zu spielen und Menschen blieb es sich nichts anderes übrig, als sich auch zu bewegen in diese Richtung zu bewegen. So wurde die Versammlung aufgelöst.

Ich habe einen Polizisten gebeten, mich in die entgegengesetzte Richtung fahren zu lassen, in die Richtung der Friedrichstraße. Der Polizist antwortete, dass es nicht geht und dass ich die Straße umfahren müsse. Ich nahm eine Nebenstraße und fuhr bis zur James-Simon-Gallerie. Auch dort befanden sich mehrere Polizei-Patrouillen, aber kaum Menschen. Ich bin wieder auf Unter-den-Linden abgebogen und sah einige Polizeifahrzeuge, einen dunkelroten Minibus und mehrere Fahrradfahrer, die dem Minibus folgten. Ich stand neben einer kleinen Gruppe Bürger, als ich aus dunkelrotem Bus Beschimpfungen „Verpisst Euch, ihr Nazischweine! Fickt euch!“ hörte und zum letzten Spruch entsprechende Gesten aus dem Busfenster sah. Das müssen Menschen aus der linken Szene sein, dachte ich. Jemand aus der kleinen Gruppe, neben der ich noch stand, hat zurückgeschrien: „Und ihr haltet euch für die richtigen, wenn ihr so aggressiv seid?“. Ich fuhr auf Unter-den-Linden weiter und traf mich dort mit meinem Freund. Zusammen sind wir Richtung Kanzleramt gegangen und von dort auf die Moltkebrücke. Überall standen bewaffnete Polizisten und Einsatzfahrzeuge. Immer wieder haben wir kleine Gruppen von Demonstranten oder Passanten gesehen. Bei der Menge der Polizisten war es mir zunehmend mulmig. „Es sind doch ganz normale Bürger, wozu so viel Polizei“, dachte ich.

Erst richtig unangenehm wurde es mir, als ich auf der Moltkebrücke wieder den dunkelroten Minibus sah. Aus seinen oben aufgestellten Lautsprechern hörte man aufgenommene Parolen zur Unterstützung staatlicher Schutzmaßnahmen. Um den Minibus herum erstarrten einige junge Menschen mit Mundschutz und gleich gestalteten und gedruckten Plakaten in ihren Händen. Um diese Menschen herum stand die Polizei. Sie standen so wie kleine Soldaten auf der Moltkebrücke, mit verdeckten Gesichtern und gedruckten Plakaten in ihren Händen und wirkten sehr befremdlich.

Wir sahen noch zwei weitere große Plakate:

„Gegen jeden Antisemitismus“ und „Zu Verschwörungstheorien gehören Vernichtungsfantasien“.

Außer dieser Gruppe haben wir bis jetzt keine gesehen, die auf irgendwelche Weise aggressiv oder auffällig waren. Und immer noch keine Alu-Hüte, keine Rechtsextreme oder Hassbotschaften an Bill Gates. Haben wir denn alles verpasst? Oder sind wir an falschem Ort?

Von der Moltkebrücke gingen wir Richtung Kanzleramt und sahen folgendes Bild:

Attilla Hildmann hat sich in Begleitung einer größeren Gruppe Menschen auf die Wiese vor dem Kanzleramt bewegt, wo dort für seine kleine Demo schon eine Absperrung vorbereitet war, damit nicht mehr als insgesamt 50 Menschen an der Demo teilnehmen können. Die Absperrzone füllte sich sehr schnell und Menschen, die nicht mehr darein gelassen wurden, platzierten sich – so wie wir auch – um die Absperrzone herum. Es standen sonst überall Polizisten und man konnte wieder die Polizei-Ansage hören, dass sich alle am besten nach Hause begeben sollten. Die Ansage wurde schlicht ignoriert, alle wollten hören, was Attila Hildmann jetzt sagen wird. Bei der Menge der Menschen konnte man den Abstand nur schwer einhalten.

Attilla Hildmann wurde zuvor von der Polizei brutal festgenommen, danach wieder frei gelassen und erzähle davon. Ich bin weit von seinen Ansichten entfernt und man muss sie auch nicht vertreten, um eine brutale Festnahme mitten auf der Straße, während er seine Rede hielt – selbst wenn auch verbal etwas provozierend, als solche einzustufen.

Er sagte dann unter anderem „Ich habe mich in einem Land wieder gesehen, wo es nur eine Meinung gab. Und jeder, der diese Meinung hinterfragt hat, war sofort ein Verschwörungstheoretiker.“ Diesem Spruch kann ich aber voll zustimmen, weil ich das selbst erlebt habe, beispielsweise als ich in meinen Beitrag „Bringt Corona den „Großen Bruder“ nach Deutschland?“ über bereits laufende Projekte zu Corona-Tracing-Apps und digitalem Gesundheitszertifikat (mit Nachweisen und Links) geschrieben habe und daraufhin solche Kommentare wie „Ach, schon wieder diese Verschwörungstheorien aus russischen Auslands-Kanälen“ gehört habe. Da kann ich nur sagen: Lesen hilft immer. Ein Monat ist vergangen und wir haben Updates auf unseren Smartphones mit einer Schnittstelle „zur Unterstützung von COVID-19-Kontaktverfolgungsapps von Gesundheitsbehörden“ und eine frisch gegründete GbR Namens Digitales Corona Gesundheitszertifikat, unter deren Partner solche Institutionen und Unternehmen wie Bundesdruckerei, Gesundheitsamt der Stadt Köln, GovDigital und Lufthansa Industry Solutions sind.

Wir haben uns umgeschaut. Außer den Demonstranten und bewaffneten Polizisten kamen noch Polizisten mit Hunden dazu. Sie standen um das Areal herum. Aus einem Polizeifahrzeug konnte man immer wieder die Ansage zu den Verhaltensregeln hören, sodass sie die Hildmanns Stimme überdeckt hat. Ich fragte mich, ob es ein Zufall war.

Wenige Minuten nach Anfang der Veranstaltung kamen die stillen Plakathalter von der Möckernbrücke. Trotz ihren Masken habe ich die gleichen Gesichter erkannt. Sie stellten sich um die abgesperrte Zone herum und auf Betonblöcken neben dem Fußgängerweg und hielten ihre gedruckten Plakate – offensichtlich gab es eine sorgfältige Vorbereitung. Ich beobachtete, wie einige Menschen die stillen Plakathalter angesprochen haben, aber egal, was sie gefragt haben, die Plakathalter schwiegen. Eine Frau hat ein junges Mädchen angesprochen und gefragt, warum sie hier stehe und was möchte sie. Das Mädchen schwieg.

Dann kam auch der dunkelrote Minibus. Diesmal war keine Ansprache aus seinen Lautsprecher zu hören, sondern laute Musik, die die Stimme Hildmanns wieder überdeckt hat. Man konnte ihn nur kaum hören.

Offensichtlich fuhren der Minibus und die Fahrradfahrer mit den gedruckten Plakaten von einer Stelle zur anderen durch Berlin Mitte. Und somit erweckten sie den Eindruck, dass es viele dunkelrote Minibusse und sehr viele Fahrradfahrer gibt, die sich an unterschiedlichen Veranstaltungsorten gleichzeitig befinden. Auffallend war es auch, dass die Polizei diesen Bus samt Fahrradfahrer durch die gesperrten Straßen, von den wir uns entfernen mussten oder nur zum Teil betreten durften, überall passieren ließ. Insgesamt entstand der Eindruck, dass dies eine gut geplante und durchdachte Aktion war, wo jeder Teilnehmer gebrieft war, wo er überall hin fahren muss und wie er sich zu verhalten hat, wenn er von anderen angesprochen wird: Null Reaktion auf Ansprachen oder aggressives Verhalten bei Unterwegs-Sein, was dazu auch noch von der Polizei offensichtlich toleriert wurde.

Die Inhalte der Plakate waren besonders interessant. Hier nur ein Paar Beispiele:

„Klar kannst du „Merkel-Diktatur“ brüllen und den Mundschutz als „Maulkorb“ bezeichnen. Du kannst aber auch einfach mal nach Brasilien schauen um zu beobachten wie unter Bolsonaro Menschen sterben und froh sein, dass die AfD bei uns nichts zu entscheiden hat.“

„Hallo Leute, ich weiß, dass ihr auf die neue Weltordnung wartet und einige werden ungeduldig. Das Problem ist…mein Windows startet nicht. Ich werde euch auf dem Laufenden halten“.

Und besonders bezeichnend war das Plakat mit folgender Ansprache:

„Falls du glaubst, dass

  • Medien uns gezielt belügen
  • Impfungen in Wahrheit schädlich sind
  • Corona eine Blow Waffe ist
  • 5 G uns zu Versuchskaninchen macht
  • Bill Gates die WHO steuert

dann glaubst du an Verschwörungstheorien.“

Beim ersten Punkt erinnere ich mich an den tweet des Bundesministeriums für Gesundheit vom 14.03.2020 mit folgendem Inhalt:

„Achtung Fake-News! Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Und zwei Tage später verkündete Merkel drastische Einschränkungen.

In diesen Sprüchen auf den Plakaten sind sehr differenzierte Informationen enthalten – darunter auch zumindest bedenkenswerte wie zu den Medien oder zu Impfungen – in einen Kontext zusammengepackt. Für mich bedeutet es nichts anderes als Ausgrenzung und Intoleranz gegenüber den Andersdenkenden. Egal, welche Ansichten sie vertreten, es reicht schon eine pauschale Unterscheidung von der allgemeinen Regierungslinie. Mich erinnert das stark an den Umgang mit Meinungsfreiheit in der Sowjetunion: Haltung statt gesunder Menschenverstand und kritisches Hinterfragen; Diffamierung statt Respekt und offene Diskussion.

Mein Fazit zum Gesehenen am vergangenen Samstag:

Erstens: In den Medien, vor allem den öffentlich-rechtlichen, haben viele Journalisten eine sehr eindeutige Meinung zu den Demos. Ich habe so gut wie keine Journalisten gesehen. Woher haben sie ihre Meinung?

Zweitens: Für mich waren keine Corona-Leugner, Corona-Skeptiker und Verschwörungstheoretiker als solche zu erkennen. Stattdessen viele besorgte Bürger, die ihre Ansichten frei äußern und das vertreten, wofür sie auf die Straße gegangen sind. Sicherlich gab es auch ein paar seltsame Gestalten dabei – wie auf dem Foto zu diesem Post. Aber ich kann mit Sicherheit behaupten, dass sie nur vereinzelt auf den Demos zu sehen waren. Wenn aber nur von solchen Menschen Fotos oder Videos in die Medien kommen, dann ist das Bild eindeutig verzerrt.

Die Gegendemonstrationen haben mich offen gestanden mehr irritiert, obwohl sie in den Medien oft als „Die Guten“ gezeigt werden. Was ich sah, waren stramm geplante, möglicherweise bezahlte, (siehe hier) links ausgerichtete Aktionen mit Teilnehmern, die wussten, wie sie sich zu verhalten haben (aggressiv und ignorant) und die von der Polizei – zumindest beim Passieren von Absperrungen und Nichteinhaltung von Abstandsregeln bevorzugt behandelt wurden.

P.S.: Als ich diesen Text geschrieben habe, habe ich den Begriff „besorgte Bürger“ im Wortsinn verwendet, erst beim Redigieren fiel er Boris Reitschuster auf, und er machte mich darauf aufmerksam, dass er ja in Deutschland von vielen als Synonym für Rechtsextreme verwendet wird. Ich finde das abwegig, denn in einer Demokratie (und nicht nur) ist es völlig normal, sich als Bürger um die aktuellen Geschehnisse Sorgen zu machen. Deshalb lasse ich mir nicht vorschreiben, welche Worte ich in meinen Texten verwenden soll. Zu meinen letzten Artikeln bekam ich negative Kommentare, ich würde klingen wie RT. Das ist absurd, denn ich kann mit dem System Putin und RT nichts anfangen, mehr noch, die aktuelle Lage in meiner Heimat macht mir sehr große Sorgen. Das soll aber nicht heißen, dass ich hier den Mund halten muss, wenn ich etwas für kritikwürdig halte.


Dieser Artikel ist auch auf dem Blog der in Berlin lebenden, gebürtigen Petersburgerin von Ekaterina Quehl „Mein Leben in den Zeiten von Corona“ erschienen.


Bild: E. Quehl/B. Reitschuster

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