Bringt Corona den „großen Bruder“ nach Deutschland?

Ein Gastbeitrag von Ekaterina Quehl.

„Welche Farbe man zugeteilt bekommt, errechnet ein undurchsichtiger Algorithmus basierend auf Reiseinformationen und Herkunft, die man in ein Formular eintragen muss. Alle Daten werden direkt an die Behörden weitergeleitet, genauso wie die Bewegungsprofile. Zu jeder Zeit lässt sich so für den Staat nachvollziehen, wo man sich aufhält. Um eine Epidemie zu bekämpfen sicherlich effektiv und dennoch eine gruselige Vorstellung.“, schreibt die sueddeutsche.de am 5. März 2020.

Als ich auf Seiten des russischen Nachrichtenportals newsru.com las, dass auch in Moskau und in einigen anderen Regionen Russlands (meines Heimatlandes), Bürger seit Montag nur noch mit einer QR-Code bzw. einer Genehmigung das Haus verlassen dürfen und selbst auch das nur aus drei Gründen: Arbeit, Einkaufen und Arztbesuch, da war ich schockiert. Ich bin in einer Diktatur aufgewachsen und kenne das Leben mit Verboten und mit eingeschränkten Freiheiten wie etwa fehlender Meinungsfreiheit, keiner freien Entfaltung der Persönlichkeit oder keiner Reisefreiheit. Ich habe als Kind Schuluniform und rotes Halstuch getragen und es war mir verboten, meine Meinung zu äußern. Als Juden durften meine Großeltern nicht studieren und aus Angst, dass auch ich es nicht darf, hat mir meine Mutter nicht den Nachnamen meines Vaters gegeben. Für die Bürger Russlands, die ohnehin stark in ihren Freiheiten eingeschränkt sind, sind die aktuellen Einschränkungen noch ein weiterer großer Schritt in Richtung Diktatur.

Man muss dabei nicht unbedingt an die britische Serie Black Mirror denken – eine sehr anschauliche Dystopie darüber, welchen Einfluss fortgeschrittene Informationstechnologien auf sämtliche Bereiche unserer Gesellschaft haben können. Es reicht auch ein Blick nach Taiwan. Für Leute in Quarantäne verwendet die Regierung dort eine Technologie Namens „Überwachungssystem elektronischer Zaun“, schreibt Matthias Sander in der NZZ am 19.04.2020. Nach dieser Technologie müssen alle Einreisenden an den Taiwanischen Flughäfen mithilfe von einer App oder einem QR-Code personenbezogene Daten an den Grenzschutz übermitteln, welcher diese dann an die Zentren für Krankheitskontrolle (CDC) weiterleitet, so Sander. „Die CDC verifizieren die Daten, verknüpfen sie unter anderem mit der Datenbank des Nationalen Gesundheitssystems und aktualisieren die Liste mit den Leuten in Quarantäne. Der elektronische Zaun schliesst sich.“. Überschreitet die Person diesen elektronischen Zaun, der nichts anderes als 50 Meter Radius um eigenes Zuhause bedeutet, so bekommen die Behörden und die Person einen Warnsignal. Reagiere die Person nicht, komme die Polizei, erklärt Sander.

Sander berichtet auch vom internationalen Interesse für diese Technologie. Die USA und Tschechien sollen bereits eine technologische Kooperation vereinbart haben. „Laut Chunghwa Telecom erkundigte sich zudem die Deutsche Telekom bei dem Unternehmen, wie der elektronische Zaun funktioniere.“, so Sander. „Laut Chunghwa hielten die Deutschen das System für nicht konform mit dem EU-Datenschutz – und wollten sich angeblich auf europäischer Ebene für eine Ausnahme während der Pandemie einsetzen.“ Der Deutsche Telekom bestreite jedoch, Chunghwa überhaupt kontaktiert zu haben.

In einem weiteren Artikel auf newsru.com geht es um eine mögliche Einführung von digitalen Gesundheitspässen, eine Art biologischer Ausweise, die bestätigen sollen, dass deren Besitzer keine Träger der Infektion bzw. vor dem Corona-Virus bereits immun sind. Erste Schritte in dieser Richtung hat bereits China gemacht – seit dem 12. April müssen Gäste in Hotels mithilfe eines Attests nachweisen, dass sie nicht mit Corona-Virus infiziert sind. Kritische Stimmen schlagen bei solchen Ansätzen Alarm und sprechen von einer totalen digitalen Überwachung und Big-Data-Diktatur. Ein digitaler Seuchenpass, auf den Zugriff Fluggesellschaften, Grenzkontrolle, Gesundheitsbehörden und sonstige Kontrollorgane des Staates haben, wäre für mich eine Horror-Vorstellung und für europäische Länder unvorstellbar. Oder können Sie sich einen solchen Seuchenpass auch in Deutschland vorstellen?

Es ist bekannt, das Deutschland bereits an Technologien zur Entwicklung von Apps arbeitet, mit denen Infektionsketten nachverfolgt oder unterbrochen werden sollen. Was für Daten sollen sie sammeln? Wofür sollen sie gut sein? Wer wird Zugriff auf meine Daten haben? Und würden sie wirklich bei der Pandemie-Eindämmung nützlich sein? – das waren zunächst etwa die Fragen, die mir durch den Kopf gingen, als ich anfing, mich zu diesem Thema zu informieren. Auch habe ich dabei über meine alte Nachbarin gedacht, die Corona-Symptome hatte und die selbst nach zwei Rettungsdienst-Einsätzen nicht getestet wurde (der Beitrag ist hier zu finden). Und auch an eine Berliner Familie, deren alle Familienmitglieder an Corona erkrankt waren und große bürokratische Hürden überwinden mussten, um medizinische Hilfe zu bekommen und auf Corona getestet zu werden (hier ist der Link zum entsprechenden Artikel in der morgenpost.de), inzwischen leider hinter einer Bezahlschranke versteckt). Was sollen schon solche Apps außer Datensammeln und womöglich -missbrauch bringen, wenn dort, wo der Verdacht auf eine Infektion auf der Hand liegt, nicht getestet wird?, dachte ich skeptisch.

Im Laufe meiner Recherche ist mir aufgefallen, dass Massenmedien insgesamt sehr zurückhaltend über solche Technologien und deren Entwicklung in Deutschland berichten. Schlagzeilen gab es nur über die hochgelobte Datenspende-App von Robert-Koch-Institut (RKI). Nutzer können seit dem 14. April 2020 die App herunterladen und in Verbindung mit ihren Fitnessarmbändern und Smartwatches Daten zur Aktivität und Herzfrequenz an RKI in einer pseudonymisierten Form übermitteln. Die Idee soll dabei unter anderem sein, anhand von den übermittelten Daten Symptome zu erkennen, noch bevor Menschen es selbst merken, aber schon ansteckend sind. Experten wie Prof. Dr. Hannes, der Präsident der Gesellschaft für Informatik bemängeln aber den unzureichenden Datenschutz bei dieser App. Sie sei überraschend schlecht gemacht und daher zum Schutz der Bevölkerung eher abträglich.

Sehr vorsichtig berichten Massenmedien meines Erachtens auch über das paneuropäisches Projekt Namens „Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing“ (PEPP-PT), bei dem mehr als 130 Forscher aus acht europäischer Ländern an Technologien arbeiten, die als Grundlage für die Entwicklung sogenannter Contact-Tracing-Apps dienen sollen. Mit diesen Apps soll eine Unterbrechung von Infektionsketten ermöglicht werden. Die Idee dabei ist, dass Nutzer freiwillig eine App auf ihre Smartphones herunterladen, die für mehrere Tage aufzeichnen soll, mit wem Personen länger als 15 Minuten in einem (Bluetooth-)nahen Kontakt standen. Im Falle einer Infektion soll die App des Betroffenen automatisch und schnell alle relevanten Kontakte darüber informieren.

Aufmerksam auf PEPP-PT bin ich besonders dann geworden, als einige Fachmagazine wie golem.de und netzpolitik.org über einen Streit um die fehlende Transparenz im Projekt berichteten.

Der Schweizer Epidemologe Marcel Salathé, der am Projekt mitarbeitete, hat dieses wegen der Intransparenz Ende der vergangenen Woche verlassen.

„«Ich bin nicht mehr Teil von PEPP-PT. Ich weiss nicht mehr, wofür das Projekt eigentlich steht, und habe kein Vertrauen mehr in das, was passiert», sagte Salathé im Gespräch der Neuen Zürcher Zeitung. «Mir fehlt die Transparenz.»“, steht im Artikel.

Salathé erläutert auf nzz.ch, dass die Auseinandersetzung sich um zwei unterschiedliche technische Ansätze drehe: einen zentralen und einen dezentralen Weg, Informationen zu verarbeiten. Bei einem zentralen Ansatz werden die Informationen der Nutzer, also wann, wo und mit wem sie sich getroffen haben, auf einem zentralen Server gespeichert. Bei einem dezentralen Ansatz sollen solche Informationen auf den Handys der Nutzer gespeichert werden. Nun sei das Protokoll für den dezentralen Ansatz von der offiziellen Webseite des Projekts verschwunden, so Salathé.

Bei der Speicherung der Informationen auf einem zentralen Server besteht die Gefahr, dass die Persönlichkeiten der Nutzer schnell identifiziert werden können und dass deshalb ihre Privatsphäre verletzt werden kann. Gesundheitsbehörden hätten den Zugriff auf sensibelsten Daten der Nutzer. Nun sei aus mehreren Quellen aber bekannt, dass die Bundesregierung, die das Projekt PPEP-PT offiziell unterstützt, genau einen zentralen Ansatz forciert, gibt die Plattform für digitale Freiheitsrechte netzpolitik.org an.

Der bemängelnde Datenschutz der Datenspende-App von Robert-Koch-Insitut und der Streit um die Transparenz des Projekts PPEP-PT weisen darauf hin, dass Deutschland offensichtlich bei der Anwendung digitaler Lösungen zur Pandemie-Bekämpfung keine klare und offene Strategie verfolgt. Doch die Informationen, auf die ich bei meiner weiteren Recherche gestoßen bin, übersteigen von ihrer Brisanz her all die in meinem Beitrag aufgezählten Auffälligkeiten.

Erinnern Sie sich noch an meine Frage, ob Sie sich einen digitalen Seuchenpass in Deutschland vorstellen können?

Nun arbeitet bereits ein Konsortium, zu dem mehrere Akteure und Unternehmen, darunter Bundesdruckerei, Gesundheitsamt der Stadt Köln, Uni-Klinik Köln und Lufthansa Industry Solutions angehören, an der Entwicklung eines digitalen Corona-Gesundheitszertifikats für die deutschen Bürger.

„Der mit dem Zertifikat verlässlich nachgewiesene Corona-Status soll nicht nur vom Gesundheitswesen genutzt werden, sondern auch von der Wirtschaft. Von Kontrollen bei der Arbeit, beim Antritt internationaler Flüge und beim Einlass zu Großveranstaltungen ist die Rede. „Die Vorlage eines unanfechtbaren medizinischen Testergebnisses kann als Katalysator dienen, um das gesellschaftliche Leben und die Wirtschaft wieder hochzufahren“, sind die Beteiligten überzeugt.“, steht es auf Seiten des Behörden-Spiegel.de. Stephan Noller, CEO der Firma Ubrich, die die notwendige Technologie dafür liefert und ebenfalls dem Konsortium angehört, spricht darüber, dass ein verlässlicher Corona-Status in den nächsten Monaten ein ganz entscheidendes Merkmal sein werde, um wieder zur Normalität zurückkehren zu können.

Zwar betont Ubrich im entsprechenden Whitepaper, dass datenschutzfreundliche Umsetzung von entscheidender Bedeutung sein wird, dennoch schließt das Unternehmen eine Anbindung an die Tracing-Apps von dem umstrittenen PPEP-PT-Projekt nicht aus.

Vor dem Risiko der Verletzung der Privatsphäre der Menschen und deren Grundrechte, sollten die Regierungen mit aller möglichen Transparenz darüber informieren, an welchen Technologien Behörden, Forscher und Unternehmer im Auftrag dieser Regierungen arbeiten. Und die Tatsache, dass auch die meisten Massenmedien darüber schweigen – die erste Suche ergab nur Berichte auf faz.de, Kölner Generalanzeiger (mit Bezahlschranke) und heise.de – bekräftigt zudem meinen Zweifel an der Transparenz der deutschen Regierung gegenüber den Bürgern. Stattdessen bekomme ich Artikel wie „Lockdown ja – aber nur für Gefährder!“ zu lesen, bei den es um die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Unterteilung in Gefährder und Nicht-Gefährder geht. Wer keine Gefahr für die Gesundheit anderer darstelle, müsse in seiner Betätigung als Arbeitnehmer, Selbständiger oder Verbraucher nicht weiter beschränkt werden, so heißt es im Artikel. Für mich bedeutet dieses Prinzip nichts anderes als selektive Anwendung der Grundrechte und zeigt, wie fragil sie in unserer (noch) demokratischen Gesellschaft doch sind.

Verbote und Einschränkungen prägen auf Dauer Verhaltensweisen von Persönlichkeiten und ganzen Gesellschaften. Sie ändern Wertesysteme der Menschen und brechen deren Wille und deren Geist. Seit über 15 Jahren lebe ich in Deutschland und ich betrachte demokratische Freiheiten als eines der höchsten Güter des Lebens. Und obwohl ich verstehe, dass Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie notwendig sind und dass wir um digitale Lösungen dafür nicht umhin kommen, sehe ich die Anwendung solcher Technologien wie digitaler Corona-Pass und Tracing-Apps, nach denen entschieden wird, ob ich mich in der Gesellschaft frei bewegen darf oder nicht, als Missbrauch solcher Güter.

Nachtrag:

Gestern fand ich folgende Twitter-Meldung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 14.03.2020:

„Achtung Fake-News! Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Zwei Tage später verkündete Merkel drastische Einschränkungen.

Deshalb habe ich kein Vertrauen mehr, was offizielle Zusicherungen in Sachen digitale Maßnahmen angeht.

Wer weiß, vielleicht wird mir auch heute jemand sagen, dass meine ausführliche Analyse trotz Nachweisen, Zitaten und Quellenangaben ein Fake sein soll. Aber zwischen Fake und dessen Verwandlung in die Realität liegen heute manchmal nur ein paar Tage.


Dieser Artikel ist auch auf dem Blog der in Berlin lebenden, gebürtigen Petersburgerin von Ekaterina Quehl „Mein Leben in den Zeiten von Corona“ erschienen.


Bild: freepik, pixabay, Ekaterina Quehl

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