Demonstrieren im Gleichschritt?

In 16 Jahren in Russland bin ich zu einem Fachmann für „gesteuerte Demokratie“ geworden – wie Putins Ideologen das System dort nennen. Eine der wesentlichsten Spielarten davon ist die Imitation von allem, was eine echte Demokratie ausmacht.

Seit ich 2012 nach Deutschland zurückgekehrt bin erlebe ich ein Dé­jà-vu nach dem anderen. Ob das nun plötzliche Besuche der Steuerpolizei bei innenpolitischen Opponenten ist (Friedrich Merz), die Diffamierung der Opposition als „Faschisten“ („Nazi“) oder Fernsehnachrichten, in denen die Regierung gelobt und die Opposition durch den Kakao gezogen wird – die Liste der Dé­jà-vus ließe sich sehr lange fortsetzen.

Denn anders als viele in Deutschland glauben, regiert Wladimir Putin nicht mit dem diktatorischen Hammer wie einst die Sowjets, sondern mit dem Skalpell. Kritikern bringt man da lieber wirtschaftlich in Schwierigkeiten, etwa durch Klagen, als sie lange wegzusperren.

Nein, es liegt mir fern, Deutschland und Russland gleichzusetzen. Aber gerade, wenn man die Auswüchse einer gesteuerten Demokratie am eigenen Leib erlebt hat (Prügel, Angefahren-werden vom Polizei-Auto, Festnahme inklusive, von der Ermordung von Freunden und Kollegen gar nicht zu reden), entwickelt man eine besondere Sensibilität für Methoden, die nicht lupenreich demokratisch sind.

Eines der Phänomene, das mich in Russland immer am meisten fasziniert hat, waren Demonstrationen, die stramm organisiert, gesteuert oder anderweitig merkwürdig waren. Hand aufs Herz: Wo gehen schon Menschen in großer Zahl FÜR die Regierung auf die Straße? Oder für Anliegen, die der Regierung am Herzen liegen? Oder für regierungsnahe Institutionen? Und wie kommt es, dass meist sofort Gegendemonstranten da sind, und unter ihnen oft „zufällig“ Schlägertrupps, wenn jemand gegen die Regierung protestiert? „Solche Erscheinungen sind ein klares Anzeichen dafür, dass es keine Demokratie gibt“, habe ich russische Freunde und Bekannte jahrelang belehrt. Und mich über die merkwürdigen Demonstrationen lustig gemacht.

Und jetzt habe ich den Salat. Kann mich jemand zwicken? Ich bin sicher, ich träume, dass ich immer noch in Russland bin. Denn dass parallel zu einer Demo gegen die Gebührenfinanzierung Hunderte dafür auf die Straße gehen, diese De-facto-Steuer bezahlen zu dürfen, dass dann auch noch eine vom Verfassungsschutz beobachtete, linksextreme Gruppierung, die für ihre Schlägertrupps bekannt ist, auf die Straße geht und den Staatssender (sorry, ich will natürlich sagen, staatsnahen Sender) gegen Proteste verteidigt – das kann ja wohl nicht in Deutschland und in einer Demokratie sein. Oder etwa doch?

Leider ja. Es ist nicht das erste Demonstrations-Dé­jà-vus. Da ich mir den russischen Humor, eine Art Notwehr gegen schlechte Politik, in 16 Jahren Moskau angewöhnt habe, machte ich wiederholt den Vorschlag, Angela Merkel solle doch bei den Fridays-For-Future-Demos eine Tribüne aufstellen und die Werktätigen, Entschuldigung, die Nicht-Werktätigen an sich vorüberziehen lassen.

Schon vor einigen Jahren wurde ich misstrauisch, als plötzlich vor einer Demonstration in Berlin – der genaue Anlass ist mir entfallen, aber es war wie immer für alles Gute und Korrekte und gegen alles Böse, also Nicht-Linke – vorab ziemlich genau die Teilnehmerzahl vorausgesagt wurde, und auch von den Bussen die Rede war, die all die Demonstrationswilligen in die Hauptstadt bringen sollten.

Anfängerfehler. Würde den Profis in Russland nie passieren (ebenso wenig wie kommunistische Fahnen, wie sie in Köln vor dem WDR zu sehen waren). Konzerte und Busse gehören aber auch dort zum festen Arsenal, wenn es darum geht, für politisch richtige Zwecke Leute auf die Straße zu bekommen. Auch Studenten und Staatsbedienstete werden mit sehr sanftem Druck in die richtige (politische) Richtung auf die Straße gelotst. Böse Zungen berichteten mir auch in Deutschland von solchem sanftem Druck, aber das ist nicht belegbar, und darum weise ich es entschieden zurück.

Ebenso zurückweisen muss ich jeden Hinweis darauf, dass sowohl Wladimir Putin als auch Angela Merkel in kommunistischen Kaderorganisationen ihr Handwerk gelernt haben, und dass die Bundeskanzlerin beim FDJ sogar Sekretärin für Agitation und Propaganda gewesen sein soll. Das kann nur rechte Propaganda sein, Desinformation, und wenn schon – sie ist geläutert (auch wenn sie das mit manchen Handlungen und Aussagen geschickt vertuscht).

Vor dem WDR fand die Polizei bei einem der Demonstranten FÜR den Sender ein Messer. Und einen Presseausweis. Soll noch einer sagen, der Journalismus in diesem Lande sei nicht wehrhaft. Bis aufs Messer. Als ob es nicht schon schlimm genug sei, dass jeder, der Kritik am öffentlich-rechtlichen System übt, oder gar noch gewisse „Reizwörter“ wie „Staatsfunk“, „GEZ“ oder „Zwangsgebühren“ in den Mund nimmt, Gefahr läuft, sich als Rechter beschimpfen zu lassen – insbesondere von denen, die er mit seinen Gebühren finanziert (und zwar nicht freiwillig)!

P.S.: Da ich hier Journalismus ohne Belehrung machen will, sei noch die Duden-Definition von Propaganda beigefügt. Kommentarlos.


David gegen Goliath

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Bilder: Igor Gavrilov, Mika Baumeister/Unsplash, Marie Bellando-Mitjans/Unsplash

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