„Eine klare Kapitulation des Rechtsstaats“

In gut funktionierenden Demokratien ist heftige Kritik an der Regierung und der Wunsch nach einem Regierungswechsel die normalste Sache – ja geradezu zwingend erforderlich, um das System am Laufen zu halten: Es funktioniert nur mir (Regierungs-)Wechsel. Nicht (mehr) so in Deutschland. Wer hierzulande die Kanzlerin kritisiert, der macht sich, zumindest in gewissen Kreisen, verdächtig. Der muss sich schnell anhören, er gehöre zu den „Merkel muss weg-Schreiern“. Allein solche Auswüchse zeigen, wie weit wir uns in Deutschland von einer Schulbuch-Demokratie entfernt haben.

Schlimmer noch beim Thema „Flüchtlingskrise“: Wer da Kritik an der Bundeskanzlerin äußert, läuft sofort Gefahr, im Abseits zu stehen, oder als „Verschwörungstheoretiker“ und „Rechter“ (heutzutage gleichbedeutend mit „Rechtsextremer“) diffamiert zu werden. Und jetzt das: Kein geringerer als der langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier rechnet mit Merkel ab – ein Mann aus der Mitte, den niemand an den rechten Rand stellen kann, ohne sich komplett lächerlich zu machen. Er war von 2002 bis 2010 oberster Hüter unseres Grundgesetzes, einer der ranghöchsten Männer unseres Staates. Und er stellt unserer Kanzlerin ein vernichtendes Urteil aus – das man sich als normaler Staatsbürger so kaum auszusprechen wagt.

Von „politischer Willkür“ spricht Papier, von, „erschüttertem Vertrauen in die Demokratie“, vom Verstoß gegen geltendes Recht: Merkels am 5. September 2015 getroffene Entscheidung, Flüchtlingen ohne Grenzkontrollen die Einreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen, sei illegal gewesen, so der Jurist in seinem Ende 2019 erschienenen, erschreckenden Buch „Die Warnung – Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ (Heyne, 272 Seiten). Fast genauso schlimm: Mit ihrem inzwischen oft zitierten Satz „Wir schaffen das“ (ihrer Reaktion auf die Flüchtlingsströme aus Syrien und Nordafrika) habe Angela Merkel „ein Signal“ für Tausende Menschen in die Welt gesendet, „sich überhaupt erst auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu machen“ und nach Deutschland zu kommen.

Die politischen Reaktionen auf die starke Zuwanderung aus Nordafrika sind nach Ansicht des früheren Chef-Verfassungshüters „eine klare Kapitulation des Rechtsstaats“. Humanität, Barmherzigkeit und Nächstenliebe seien zwar vom moralischen Standpunkt aus ehrenhaft und anerkennungswürdig, aber wenn in einem Rechtsstaat subjektive und individuelle Vorstellungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft an die Stelle des Gesetzes treten, mache sich Chaos breit.

Bei vielen Menschen in Deutschland habe die Bereitschaft, Flüchtlinge in solchen Zahlen aufzunehmen Furcht und Abwehr ausgelöst, was dann politisch „zu einer Radikalisierung und zu einer besorgniserregenden Spaltung der Gesellschaft“ geführt habe, so der früheres Chef des Verfassungsgerichts. Erst so sei es zum massiven Aufschwung der Parteien gekommen, die als rechtspopulistisch bezeichnet werden (wobei ich mich dabei immer frage, warum, wenn man schon solche Etikettierungen im Journalismus für sinnvoll hält, im Sinne der Ausgewogenheit dann nicht etwa die heutige SPD und die „Linke“ als linkspopulistisch und die „Grünen“ als umweltpopulistisch bezeichnet werden).

Papier legt in seinem neuen Buch auf beeindruckende Weise die Finger in viele Wunden der deutschen und europäischen Politik, ohne sich aus „politischer Korrektheit“ selbst einen Maulkorb aufzuerlegen. So schreibt er unter anderem:

Die europäische Reaktion auf die Zuwanderung von Flüchtlingen und Migranten ist weitgehend von politischer Willkür und Hilflosigkeit geprägt. Geltendes Recht wurde immer wieder ignoriert bzw. nur partiell herangezogen, dort, wo es den jeweiligen Interessen diente.“

Flucht und Migration sind zu einem ‚Business‘ im großen Stil geworden – mit Schleppern und gefälschten Pässen.“Während die europäische Flüchtlingspolitik sich als wenig rechtssicher erweist, lernen die Asylbewerber und ihre Hilfsorganisationen ständig dazu. Sie nutzen die Tatsache, dass allein der Antrag auf Asyl schon mit vielen Ansprüchen und staatlichen Leistungen verbunden ist, zum Beispiel einem vorläufigen Bleiberecht.

In Deutschland leben inzwischen viele Ausländer, die den Status als Flüchtling im Rechtssinn nicht oder auf fragwürdige Weise erlangt haben – weil das geltende Recht inkorrekt, oberflächlich oder vorschnell interpretiert wurde (…) Was die sich illegal in Deutschland aufhaltenden Personen angeht, so können wir nur vermuten, dass ihre Zahl in die Hunderttausende geht.“

Zu den Herausforderungen für den Rechtsstaat gehört es deshalb auch, trotz aller Schwierigkeiten die Ausreise derjenigen zu veranlassen und gegebenenfalls durch Abschiebungen durchzusetzen, deren Aufenthalt in Deutschland oder der EU nicht rechtens ist.“

Papiers eindringlicher Appell: Das Asylrecht dürfe „nicht länger zweckentfremdet werden als ‚Türöffner‘ für eine illegale Einwanderung – von Personen, die ersichtlich kein Recht auf Asyl oder auf internationalen Schutz in Deutschland und der EU haben.“

Der Jurist mahnt nachdrücklich, die illegale Zuwanderung werde „weiter anhalten“. Und: „Wenn „die Politik nicht umsteuert, erleidet die Rechtsstaatlichkeit auf diesem auch in Zukunft so wichtigen Terrain einen irreversiblen Vertrauensverlust.“

Auch ein anderer Ex-Verfassungsrichter, Udo di Fabio, hatte 2016 kritisiert, der Bund sei wegen des Grundgesetzes verpflichtet, „wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen“. Unsere Verfassung gewährleistet demnach nicht den Schutz aller Menschen weltweit. Eine ähnliche Stoßrichtung hatte ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von 2017.

So erfreulich es ist, dass mit Papier einer der Männer Tacheles redet, die bis vor wenigen Jahren noch eines der höchsten Ämter im Staate inne hatten – so bitter ist es, dass sich in der aktuellen Politik aus den Parteien, die „schon länger hier sind“, kaum jemand wagt, diese Tabu-Themen anzusprechen. Solange hier weiter Feigheit und Ängstlichkeit bei heiklen Themen herrscht und diese der AfD überlassen werden, braucht sich niemand über deren massive Zuwächse zu wundern.

Und für die Medien gilt das gleiche: Solange Thesen, wie sie Papier ausspricht, etwa im öffentlich-rechtlichen Fernsehen allenfalls unter der Rubrik „Rechtsextremismus“ vorstellbar sind, brauchen sich die Sender nicht über einen massiven Verlust an Vertrauen wundern. Ich war gespannt, ob ARD, ZDF, WDR und Co. breit und fair über Papiers Buch berichtet haben – und er zum Beispiel auch als Interviewpartner und Talkshow-Gast vermehrt zu sehen war.

Die Antwort fiel ernüchternd aus: Als ich in der google-Nachrichtensuche „Papier“ und den Titel des bereits im vergangenen Jahres erschienenen Buches eingab, kam ich nur auf zwei Treffer bei bekannten Onlineausgaben von Zeitungen (hier und hier). Kein einziger Suchtreffer bei den öffentlich-rechtlichen. Interessant, ob das auch so wäre, wenn Papier Merkels Flüchtlingspolitik in höchsten Tönen gelobt und und statt Merkel ihre Kritiker massiv attackiert hätte?

Dabei wäre eine offene, vorurteilsfreie, sachliche Diskussion über die Thesen, die Papier vertritt, für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie so wichtig wie die Luft zum Atmen. Gerde das Verschweigen und Tabuisieren führt zu einer Verschärfung der bereits massiven Spaltung – und damit letztlich auch zu einem Anwachsen von Extremismus, Ressentiments und Ausländerfeindlichkeit. PS: Ein Leser schrieb mir – „Er war letzten Donnerstag beim NDR Das! zur Gast und dürfte ein Paar Sätze Tacheles aus seinem Buch sprechen. Die Moderatorin nahm das schweigend hin.“


David gegen Goliath

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Bild: Random House (Cover)

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