„Alle hatten Angst vor ihm“

Von Boris ReitschusterWelche Konsequenzen müssen unsere Gesellschaft, vor allem Politik und Medien, aus der Tragödie von Augsburg ziehen? Sie müssten endlich ihre Tabus überwinden und die Probleme mit Gewalt, die überall ins Auge stechen, nicht weiter regelmäßig als „Einzelfall“ abtun und klein reden. So bewußt mir leider ist, dass dies kaum geschehen wird – so sträflich fände ich es, deswegen zu schweigen. Das würde Mitverantwortung bedeuten.

Ein Verwandter von mir ist ein Freund des 50-Jährigen, der gemeinsam mit dem 49-jährigen Feuerwehrmann im Beisein der beiden Ehefrauen von einer siebenköpfigen Jugendgruppe attackiert wurde. Als ich das erfuhr, war ich noch schockiert, als ohnehin – eine persönliche Verbindung, wenn auch eine indirekte, geht einem immer noch mehr unter die Haut. Der Feuerwehrmann starb. Sein Begleiter, mit dem mein Verwandter seit vielen Jahren befreundet ist, wurde heftig verletzt.

Als ich dem Verwandten vorlas was der mittlerweile festgenommenen Freund des mutmaßlichen Haupttäters im Gespräch mit RTL erklärte und was jetzt vielerorts

zu lesen ist, kann er es kaum glauben: „Halid ist ein sehr netter Mensch, ein herzlicher Mensch. Er nimmt jeden gerne auf, wenn es jemanden schlecht geht.“ Es heißt der Freund könne sich nicht erklären, wie es zu der Auseinandersetzung gekommen sein könne: „Ich kenne ihn komplett anders“. Im weiteren Verlauf beklagt sich der Freund des mutmaßlichen Täters dann sogar über die Reaktionen nach dem Angriff in Augsburg: „Er wurde im Internet ziemlich als Psycho dargestellt. Das finde ich etwas respektlos. Er wollte das glaube ich nicht. Das war ein Unfall.“

Diese Aussagen in den Medien haben meinen Verwandten aufgebracht. Weiter heißt es etwa in dem Bericht: „Der Anwalt des 19-jährigen Mittäters, der sich selbst der Polizei gestellt hat, überlegt nun, gegen den Haftbefehl vorzugehen. Schließlich sei anzuzweifeln, ob es sich bei der Haupttat überhaupt um einen Totschlag handle. Denn dafür müsste ein bedingter Tötungsvorsatz zu erkennen sein. Und selbst dann müsse man klären, welchen Vorwurf man seinem Mandaten für den tödlichen Schlag machen könne.“

Man kann sich ausmalen, wie solche Aussagen in den Medien auf den Freund meines Verwandten wirken werden. Auf die Frau des Getöteten, die derart traumatisiert war, dass sie lange nicht vernehmungsfähig war.

Ein Freund aus meiner Heimatstadt schrieb mir heute: „Meine Frau unterrichtet an einer Augsburger Berufsschule, gestern kamen zwei Schüler auf sie zu und teilten ihr mit, dass sie den Täter aus der früheren Schule kennen und beschrieben ihn als einen sehr boshaften gewaltbereiten Menschen, vor dem alle Angst hatten, der in der Schule nur Probleme gemacht hat, Drogen und Alkohol war auch ein Thema bei ihm. Also von wegen ein hilfsbereiter anständiger Junge!“Mit meinem Verwandten sprach ich auch über die Perspektiven des Verfahrens gegen die sieben Jugendlichen. Er ist vom Fach, und er sagt, in Bayern sei die Justiz noch bei weitem nicht so nachsichtig wie anderswo. Er sagt das mit Erleichterung. „Gar nicht daran zu denken, wie so ein Verfahren in Berlin ausgehen könnte“, sagte ich ihm. „Ja“, meint er, und ich glaube ein bitteres Lächeln aus seiner Antwort herauszuhören. Als ich letztes Jahr in Berlin attackiert wurde, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Mein Verwandter sagte mir damals, in Bayern wäre das nach seiner Einschätzung ganz anders ausgegangen.

Der Polizeipräsident von Schwaben-Nord äußerte unterdessen, er verstehe die Kritik an der Polizei nicht, und unterstellte Bürgern, sie wollten verunsichern:

In der Tag spricht vieles dafür, dass im konkreten Fall die Augsburger Polizei vorbildlich und vor allem sehr erfolgreich arbeitete. Aber dass (und auch warum) das Grundvertrauen bei in die Polizei so vielen Menschen beschädigt bis zerbrochen ist, sollte ein Polizeichef verstehen. Und seinen Bürgern nichts unterstellen. Der Blogger „CaptainGarry“ schreibt auf twitter: „Ich hab mir die Pressekonferenz angesehen, auf der erläutert wurde, warum man nicht an die Öffentlichkeit ging. Das klang plausibel. Leider werden hier nicht nur kritische, sondern auch meist beleidigende und unterstellende Posts gegen die Polizei geschrieben.

Ja, so ist das. leider. Und das ist zu verurteilen. Aber die Verantwortlichen bei der Polizei sollten auch einmal in sich gehen und fragen, welchen Anteil sie bzw. ihre Kollegen an dieser schlimmen Entwicklung haben. Die Kölner #Silvesternacht war eine Art Bruch des Urvertrauens, danach gab es noch diverse andere Vorfälle, die weiter das Ansehen der Polizei beschädigten. Und wie hoch inzwischen teilweise politischer Druck auf die Beamten ist, wenn es um die Information der Öffentlichkeit geht, berichten viele – hinter vorgehaltener Hand.

In meinen Augen haben wir nach Augsburg die typischen Beißreflexe, insbesondere von der linken Seite des politischen Spektrums, die

sich heute selbst als Mitte einordnet und tonangebend ist. Liest man manchen Bericht in der Süddeutschen Zeitung (im Volksmund „Alpenprawda“), kommt man zu dem Eindruck, das Problem sei nur die AfD. Das Problem ist aber die Zunahme von Gewalt- und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Gerade auch im öffentlichen Raum. Woher die Gewaltbereiten stammen, spielt dabei zunächst einmal nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, dass sie Oberwasser haben. Dass sich kaum noch jemand traut, ihnen Paroli zu bieten.

Wo leben wir, wenn im Bayerischen Rundfunk empfohlen wird: „Statt Zivilcourage –

Abstand halten.“ Zu Ende gedacht bedeutet das: Pöblern den öffentlichen Raum überlassen. Leider ist das wohl auch wirklich vernünftig. Aber wo bleibt der Aufschrei, dass wir solche Verhältnisse haben? Nur „weiter so?“

Wohin das führt, sehen wir – für eine erhöhte Polizeipräsenz, die dringend notwendig war, fehlt bei der schwachgesparten Polizei sogar in Bayern das Personal – nicht vorzustellen, wie die Situation in anderen Bundesländern aussieht, deren Regierungen traditionell weit weniger polizeifreundlich sind als die bajuwarische.

Dass es heute, wenn in München ein Polizist

ein Messer in den Rücken gerammt bekommt, nur noch eine Meldung in den Randspalten der Zeitung mit zwanzig Zeilen ist. Das zeigt, wie weit wir schon abgestumpft, an das Schreckliche gewöhnt sind. Und alle, die zu dieser Abstumpfung beigetragen haben, etwa durch Verharmlosung, trifft eine Mitverantwortung. Gerade diejenigen, die bei rechtsextremer Gewalt – völlig zurecht – sofort lautstark aufschreien, und den Mund nicht aufbekommen, oder nur zu Beschwichtigungen, wenn die Gewalt aus anderer Richtung kommt, deren Benennung ihrer Ideologie zuwider läuft.

‪Wir können uns nicht mehr den Luxus erlauben, endlich Fragen wie diese offen zu stellen und ohne Tabus und ideologische Scheuklappen zu diskutieren: Ständig liest man nach Gewaltattacken, dass die Täter polizeibekannt sind. Wäre bei so einer Häufung nicht mal eine breite Diskussion angebracht, ob unsere Gesetze bzw. deren

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Anwendung durch die Justiz möglicherweise etwas zu lasch sind? ‬Ob sie die noch genügend Abschreckungswirkung zeigen, genügend präventiven Charakter, ob die Abwägung zwischen dem Recht des Einzelnen und dem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit noch auf vernünftige Weise erfolgt, ob nicht allzu milde Strafen von aggressiven Gewalttätern geradezu als Freibrief, wenn nicht gar als Ansporn aufgefasst werden?

Politik und Medien dürfen nicht weiter die Augen davor verschießen, dass wir mit der liberalen Justierung von Justiz und Recht, die noch aus heileren Zeiten stammt, mit den Herausforderungen der neuen Zeit – zu denen allen Tabus zum Trotz gerade auch Gewaltimport gehört – nicht fertig werden. Es ist schizophren, wenn viele einerseits „Multikulti“ („Buntheit“) und Einwanderungsgesellschaft bejubeln, aber gleichzeitig so tun, als habe das keine einschneidenden Auswirkungen und als müssten in einer solchen Gesellschaft nicht grundlegende Normen, die ihnen lieb und teuer sind, in Frage gestellt und neu verhandelt werden. Wir bewegen uns in Richtung amerikanische Verhältnisse – mit Kuschel-Justiz, Pipi-Langstrumpf-Mentalität und Vogel-Strauß-Politik werden wir die aktuellen Probleme nicht in den Griff bekommen.

P.S.: Nachdem ich diesen Artikel geschrieben habe, schickte mir ein Freund ein Foto dieser Traueranzeige der Stadt Augsburg. Mich hat sie bestürzt. Ich finde, auch in so traurigen

Minuten, aus so einem tragischen Anlass, auch in einer Traueranzeige muss man die Dinge beim Namen nennen. Dieses Schönreden, Wegsehens ist ein wesentlicher Teil des Problems. In vielfacher Hinsicht.

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