„Kaum Anzeichen für erhöhte Sterblichkeit“

+++ AKTUALISIERUNG AM 1. MAI +++

Wie angekündigt hat das Bundesamt die Sterbefall-Statistik aktualisiert, jetzt mit den Fällen bis 5. April (Details hier). Das Fazit der Behörde, nachdem nun der ganze März ausgewertet ist: „Auch im März 2020 mit insgesamt mindestens 85 900 Sterbefällen ist bei einer monatsweisen Betrachtung kein auffälliger Anstieg der Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar. Da die Grippewelle 2020 seit Mitte März als beendet gilt, ist es naheliegend, dass diese vergleichsweise hohen Werte in einem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen. Normalerweise gehen die Sterbefallzahlen zu dieser Jahreszeit tendenziell zurück.“ Dass es 2019 einen sehr ähnlichen Anstieg Ende März gab, erwähnt das Bundesamt dabei nicht – es ist aber deutlich in seiner Graphik der Sterbefälle zu sehen:

Beachtenswert ist, wie gegensätzlich das Echo auf die neuen Zahlen in den Medien ausfiel: Spiegel-Online titelt: „Covid-19 in Deutschland – Kaum Anzeichen für erhöhte Sterblichkeit“. Damit steht das Hamburger Magazin aber eher einsam da. Der Tagesspiegel, die Süddeutsche und die Berliner Zeitung kommen am gleichen Tag anhand der gleichen Daten zum eher umgekehrten Schluss. Dort heißt es „Die Todesfallmeldungen in Deutschland weisen erstmals seit Beginn der Pandemie einen ungewöhnlichen Anstieg auf“ bzw. „Sterbefallzahlen deuten auf mehr Corona-Tote hin“ bzw. „Sterbefallzahlen in Deutschland steigen an„. Dieser Tenor zieht sich durch die gesamte Medien-Berichterstattung:

Die Zeit schreibt: „Ist das der Corona-Effekt? Bis Anfang April sind mehr Menschen gestorben als sonst.“ Genau das scheint aber der Graphik des Bundesamts zufolge nicht zu stimmen. Vor allem wenn man das Jahr 2018 ansieht. Die Zeit meint vielleicht, in den ersten Apriltagen seien mehr Menschen gestorben als sonst – vom 1. bis 5. April 2018 starben 14427 Menchen, vom 1. bis 5. April 2020 etwas weniger, nämlich 14312. Doch nicht nur diese Angabe der Zeit ist falsch. Interessanterweise ist der Abstieg der täglichen Sterbezahlen nach dem 2. April 2020, mit dem die Graphik des Bundesamt endet (gut zu sehen oben, rote Linie), bei der Graphik in der Wochenzeitung nicht zu erkennen – die endet mit einem Anstieg:

Als Quelle gibt die Zeit an: „Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen„. Die „eigene Berechnung“ besteht darin, dass die Zeit statt den Tageszahlen wie das Bundesamt den Wochendurchschnitt bringt – Simsalabim, und schon zeigt die Kurve bis zum Schluss nach oben. Der Verdacht, dass es sich hier weniger um eine sinnvolle statistische Interpretation handelt als um journalistische Hütchenspielerei, ist hier zumindest nicht auszuschließen. Zwischenzeitlich gab es auch Bericht über eine Übersterblichkeit in einzelnen Corona-Hotspots (siehe hier im Newsfeed des Focus – nach Scrollen nach unten).

+++ ENDE DER AKTUALISIERUNG VOM 1. MAI 2020 ++++

Berlin, 29.4.2020 – In Deutschland tobt – wieder einmal – ein Glaubenskrieg. Diesmal geht es nicht um das Klima, nicht um Migration und auch nicht um die Energiepolitik. Das Thema, das enorme Gräben aufwirft im Lande, ist die Corona-Pandemie. Befürworter der strengen Einschränkungen und Zweifler an der Wirksamkeit derselben stehen sich unerbittlich gegenüber. Die Phalanx der Skeptiker reicht von vielen, die zwar nicht an der Gefährlichkeit des Virus generell Zweifel haben, aber an deren Ausmaß, bis hin zu denen, die das Coronavirus SARS-CoV-2 nicht für bedrohlicher halten als ein normales Grippevirus.

Die Undurchschaubarkeit und Widersprüchlichkeit der amtlichen Angaben und Statistiken ist dabei dazu angetan, dass für den Anhänger von fast jeder Theorie etwas dabei ist: Je nachdem, wie man sich welche Zahlen vornimmt (siehe meinen Beitrag dazu hier). Umso mehr wird auf Zahlen gewartet, von denen sich viele eine zumindest halbwegs objektive Grundlage für die Beurteilung versprechen: Die Sterbefallzahlen 2020, also im Jahr der Corona-Pandemie, im Vergleich zu den Vorjahren.

Umso erstaunlicher ist es, dass eine solche Statistik schon seit einiger Zeit vorliegt – und medial kaum Beachtung erfährt. Mehr noch, in einigen Medien sind Sätze wie dieser zu lesen: „Auch das Statistische Bundesamt hat bislang keine aktuellen Zahlen veröffentlicht.“ Das stimmt so aber nicht. Die (derzeit noch vorläufigen) Daten der obersten Statistik-Behörde zeigen, dass die Zahl der Toten in den ersten zweieinhalb Monaten des Jahres nicht höher waren als in den vergangenen Jahren im selben Zeitraum:

Die untere Kurve zeigt die Todesfälle von Menschen unter 65 Jahren, die obere von Menschen über 65 Jahren. Erfasst sind 2020 nur Daten bis zum 15. März. Gerade wenn man die Kurve der Älteren näher betrachtet, zeigt sich, dass die Todeszahlen etwa vergleichbar hoch sind wie 2019 (schwarz). 2017 (grau) und 2018 (blau) waren sie deutlich höher als 2020 (bleich rot):

Das Bundesamt schreibt dazu: Die ersten vorläufigen Daten für das Jahr 2020 geben aktuell noch keine Hinweise auf eine Übersterblichkeit durch COVID-19 mit auffälligen Abweichungen nach oben. Im Januar 2020 starben nach dieser Auszählung etwa 85 000 Menschen. Im Februar 2020 waren es mindestens 79 000 Personen. Auch in der ersten Märzhälfte ist bislang kein auffälliger Anstieg der Sterbefallzahlen erkennbar. Da die Grippewelle 2020 seit Mitte März als beendet gilt, könnte ein möglicher Anstieg von Sterbefallzahlen im weiteren Verlauf des Jahres 2020 in einem Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehen.“

„Erste Zahlen für den gesamten März 2020 werden am 30. April 2020 zur Verfügung stehen“, heißt es weiter auf der Seite des Bundesamtes. Solche Zahlen für den gesamten März liegen bisher nur aus Nordrhein-Westfalen vor. „Hinweise auf eine durch die Covid-19-Pandemie erhöhte Sterblichkeit sind aus diesen Daten für März 2020 nicht abzulesen“, ist aus einer Mitteilung der statistischen Landesbehörde vom Dienstag zu erfahren. Diese weist zwar darauf hin, das die Daten noch nicht endgültig geprüft sind; andererseits kann man sie nicht als irrelevant abtun, weil das Bundesland anfangs das Epizentrum der Pandemie in Deutschland war.

Insgesamt sind die vorliegenden amtlichen Totenzahlen nur sehr bedingt aussagekräftig, weil sie bis auf Nordrhein-Westfalen nur bis Mitte März reichen. Sie decken sich mit der Corona-Statistik, wonach es bis zum 15. März 2020 in der ganzen Republik nur 17 Todesfälle unter Infizierten gegeben hat. Allerdings galt auch diese Zahl wiederum nur als beschränkt aussagefähig, weil bis vor kurzem das Robert-Koch-Institut davon abriet, Obduktionen durchzuführen. Deshalb war zumindest nicht auszuschließen, dass Tote mit der Infektion nicht als solche erkannt wurden.

Fast noch aussagekräftiger als die Zahlen selbst ist aber die Tatsache, dass sie in den Medien nur einen geringen Widerhall finden. Dabei könnten sie trotz ihrer beschränkten Aussagekraft zumindest für eine gewisse Beruhigung hinsichtlich der allerschlimmsten Befürchtungen sorgen. ARD-Chef-Faktenfinder Patrick Gensing etwa verbreitet auf Tagesschau.de genau die gegenteilige Botschaft: „Corona-Pandemie – Übersterblichkeit deutlich gewachsen.“ Das ist zumindest insoweit fragwürdig, als sich Gensing auf Zahlen eines nicht sonderlich bekannten dänischen „Network Hubs“ mit dem Namen „Euromomo“ beruft, die bis in die Kalenderwoche 16 reichen (also bis 19. April) – zu einem Zeitpunkt, als etwa in Deutschland beim Bundesamt noch nicht eimal die Daten für die Kalenderwoche 12 vorlagen. Dass die anderen 23 europäischen Staaten, auf die sich die Statistik neben den deutschen Bundesländern Hessen und Berlin beruft, so früh bzw. aktuell zuverlässige Sterberaten bereit stellen, ist zumindest höchst erstaunlich.

Ebenso wie die Tatsache, dass bei „Euromomo“ eben nur zwei Bundesländer als Quelle angeführt werden – der ARD-Chef-Faktenfinder es aber so darstellt, als erlaubten die „Euromomo“-Zahlen Rückschlüsse auf ganz Deutschland: Auch in der Altersgruppe der Menschen über 65 Jahre ist EuroMomo zufolge bis Mitte April in Deutschland bislang keine außergewöhnliche Übersterblichkeit festzustellen“. Euromomo warnt sehr ausführlich, dass seine Zahlen nur mit Vorsicht zu betrachten sind. Auf Tagesschau.de wird diese Warnung nur sehr beiläufig und unvollständig erwähnt.

Unsauber ist auch, dass in dem Bericht zumindest beim oberflächlichen Leser der Eindruck zu entstehen droht, es gebe europaweit eine Übersterblichkeit. Genau das ist aber nicht auch laut „Euromomo“ nicht der Fall. Das Phänomen beschränkt sich auf bestimmte Länder (siehe hier). Der Vorspann („In Europa sind innerhalb von vier Wochen Zehntausende Menschen mehr gestorben als im gleichen Zeitraum der Vorjahre“) und der Einstieg (Die Übersterblichkeit lag...in den ausgewerteten europäischen Staaten bei fast 50.000 Personen…“) ist insofern irreführend: Korrekter wäre es gewesen, hier von „einigen europäischen Ländern“ zu sprechen. Schottland und England führt tagesschau.de dabei auch noch als zwei getrennte Länder auf – sie sind aber ein Land, zumindest noch. Beachtlich, dass ausgerechnet der (Chef-)Faktenfinder so mit Fakten umgeht.

Es bleibt spannend, ob das Bundesamt morgen wie anvisiert die Zahlen für die zweite Märzhälfte veröffentlicht, und wie diese aussehen. Fast noch spannender ist, wie und vor allem in welchem Umfang und wie breit unsere Medien darüber berichten.


Bilder: Shutterstock, Screenshots Tagesschau/ARD, heute/ZDF, Screenshot/Link „Statista“.

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