Die Rückkehr von Pranger und Scheiterhaufen

Das Mittelalter kehrt zurück. Mit einem Hexentempo. Der Exorzismus, auch Befreiungsdienst, Teufels- oder Dämonenaustreibung genannt, schleicht sich schon seit einiger Zeit in neuem Gewand in die Gegenwart. Etwa in der Forderung, sich ständig von einer bestimmten Partei zu distanzieren. Selbst Stimmen dieser Partei in Parlamenten gelten als „befleckt“, und wer „befleckt“ gewählt ist, ist des Teufels. Retten kann da nur die (Selbst-)Kasteiung, ebenfalls eine segensreiche Erfindung des Mittelalters. Das Wort leitet sich von „Züchtigung“ ab. Und die Kasteiung trieb bunte Blüten. So trug Heinrich Seuse Unterwäsche mit eingearbeiteten Nägeln und stichelte den Namen Jesu auf seine Brust, Adelheid Langmann verwendete zur Selbstverwundung eine Igelhaut, Christina von Retters schließlich verbrannte sich zur Abtötung des Fleisches ihre Scheide.

So weit sind wir heute noch nicht. Gott sei Dank. Nicht mal Christian Lindner. Auch wenn der FDP-Chef Christian in Sachen Kasteiung inzwischen einen erstaunlichen Eifer an den Tag legt. So entschuldigte er sich dafür, dass seine Partei im Stadtstaat Hamburg mit den Falschen, den „Befleckten“ gestimmt hatte – für vernünftige Dinge, aber das spielte keine Rolle. Nach Thüringen und der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Teufels-Stimmen hatte man fast schon Angst, dass der David Hasselhoff der deutschen Politik bei einem seiner Auftritte die Geißel heraus holen und sich selbst mit dieser schwere Schmerzen am Rücken zufügen könnte, wie weiland die (Selbst-)Geißler im Mittelalter.

Und jetzt die nächste Ketzerei des bußfertigen Sünders mit dem unschuldigen Jungen-Gesicht, die Deutschland bzw. twitter tagelang in Atem hielt. Und für die sich Lindner erneut das Büßergewand anziehen musste und sich in vertrauter Selbst-Kasteiungs-Manier öffentlich entschuldigte. Sein Verbrechen: Er hatte sich in einem Berliner Nobel-Restaurant mit einem Unternehmer herzlich umarmt. Und da heute jeder überall und jederzeit von seinen smartphone-bewaffneten Mitmenschen überwacht wird, wurde die böse Tat sofort Millionen Menschen bekannt.

Der Volkszorn der (gesundheits-)besorgten Bürger kochte. Und zwar pikanterweise nicht, weil der Unternehmer Konsul von Weißrussland ist, einer Diktatur – dieser politische und wirklich unappetitliche Aspekt der Umarmung schien niemanden zu interessieren, umso mehr aber der hygienische. Der Delinquent kam sofort landesweit an den Pranger. Ihm fehlt die himmliche Gnade seines Freundes Jens Spahn. Der überstand, trotz bösen Blickes, eine Liftfahrt ohne Schutz und Mindestabstand ohne größeren Hexenprozess. Ihn rettete wohl die Nähe zur Erlöserin, der heiligen Angela aus der Uckermark, die auch ohne Mundschutz unbefleckt ist und das Wunder der unschuldigen Frisur vollbrachte – trotz Friseur-Berufsverbots immer völlig frisch frisiert zu wirken.

Neben dem Pranger und den bzw. der Heiligen ist auch die Verfolgung von Ungläubigen, vulgo Ketzer wieder allgegenwärtig. Sie werden heute als „Zweifler“, „Irre“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „Rechte“ dedm Internet-Scheiterhaufen zugeführt. Vorzugsweise von Journalisten und „Aktivisten“, die die Rolle der Inquisition übernommen haben und gut alimentiert bzw. mit Pöstchen versorgt werden für ihren heiligen Kampf. Die Pranger und Scheiterhaufen sind heute zwar virtuell und nicht mehr tödlich. Aber sie können jedermann um Job und Ansehen bringen und werden deshalb von Normalsterblichen gefürchtet.

Eine Umarmung wie die von Lindner ist in den Zeiten von Corona offenbar ein viel schlimmeres Vergehen, als wenn in Mecklenburg-Vorpommern die CDU die Mit-Gründerin der linksextremen „Antikapitalistischen Alternative“ dort, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, mit zur Verfassungsrichterin wählen. Eine Frau, die beim Gedenktag des Mauerbaus demonstrativ sitzen blieb im Parlament. Sie gilt als „rein“, offenbar weil der Heiligenschein aus der Uckermark bis zu ihr scheint.

Weniger Glück hat der Trainer des FC Augsburg. Der arme Ex-Nationalspieler Heiko Herrlich musste sich selbst kasteien und nahm zur Eigen-Bestrafung beim ersten Nach-Corona-Bundesligaspiel statt auf der Trainerbank auf der Tribüne Platz. Sein Verbrechen: Er hatte vorschriftswidrig das Mannschaftshotel verlassen, um sich die vergessene Zahnpasta in einem Supermarkt zu kaufen! Dabei hätte er den Zeugwart schicken müssen. Der Schuft! Auch hier kochte der Volkszorn bei manchen höher als etwa bei der Cum-Ex-Affäre in Hamburg. Die Steuerbehörden in der SPD-regierten Stadt hatten der Warburg-Bank nach einer SPD-Parteispende 47 Millionen Steuerschulden verjähren lassen. Wiedergewählt wurde die SPD trotzdem.

Weniger mittelalterlich als vielmehr Tradition der zwei Diktaturen auf deutschem Boden ist die Blockwart-Mentalität, die im Zuge von Corona noch mehr zu Tage kommt als schon vorher im Kampf gegen „Rechts“.

Eine unbedachte Umarmung kann heute mehr Empörung auslösen als jahrelanger, ungestörter Drogenhandel unter den Augen der Polizei in Berlin – als ob der gesundheitsfördernd wäre. Viele, für die noch gestern die Einhaltung von Regeln als spießig und „rechts“ galt, übertreffen nun ihre eigenen (Ur-)Großväter in Sachen Spießigkeit und Längen. Denunzieren und Spitzeln wird wieder zum Volkssport.

Das Virus wirkt nicht nur auf die Lunge. Es scheint auch massiv aufs Hirn zu schlagen. Auch ohne Infektion.

So vernünftig Sicherheitsmaßnahmen in Zeiten von Corona für unsere physische Gesundheit sind: Wenn sie in totalitäres, mittelalterliches Denken und Verhalten umschlagen, sind sie gefährlich für unsere psychische Gesundheit. Und für Demokratie und Freiheit.


Bild: Pixabay, Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

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