Digitaler Albtraum

Die Ausgangsbeschränkungen in Deutschland sind drastisch genug – vor allem in den südlichen Bundesländern. Verglichen mit Moskau sind sie aber geradezu ein Kinderspiel. Dort wird über die in der Stadt allgegenwärtigen Videokameras und Gesichtserkennung sichergestellt, dass das überaus strenge Ausgehverbot, das seit Samstag gilt, wirklich eingehalten wird. Nur noch mit QR-Code darf man die Wohnung verlassen. So entsteht ein Überwachungsmodell, das selbst Orwell sich kaum vorstellen konnte. Kritiker gehen so weit, von einem „digitalen Konzentrationslager“ zu sprechen.

Ab dem 3. April werden die russischen Behörden die Bürger über SMS-Dienste und das so genannte „einheitliche Portal für öffentliche Dienste“ über Verstöße gegen die Quarantäne informieren. Parallel dazu werden die Daten an das Innenministerium, das Gesundheitsministerium, die Verbraucherschutzbehörde sowie an die „Arbeitsgruppe Coronavirus“ gesendet.

Darüber hinaus gibt das Kommunikationsministerium ab 1. April die Daten aller Bürger die selbstisoliert sein müssen, an den Sozialversicherungsfonds und die Regierung weiter. Zu so einer „Selbstisolation“ sind alle Bürger 14 Tage lang verpflichtet, die aus Ländern zurückgekommen sind, in denen Fälle von Coronavirus-Infektionen gemeldet wurden – also etwa auch Deutschland.

In Sankt Petersburg wurde ein 30-jähriger Ingenieur durch die Gesichtserkennung der Straßenkameras dabei ertappt, dass er nach der Rückkehr aus der Schweiz am 21. März seine Wohnung verließ. Daraufhin wurde er in ein Heim zwangseinquartiert. Als er aus diesem über ein offenes Fenster floh, wurde nach ihm gefahndet. Nach seiner Festnahme läuft nun ein Strafverfahren gegen ihn. Nach dem russischen Strafgesetz droht ihm nun wegen „Verstoß gegen sanitär-epidemologische Regeln“ eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, wenn er jemanden angesteckt hat; sollte nachgewiesen werden, dass ein Angesteckter an Corona starb, drohen ihm bis zu fünf Jahre Straflager.

Schon in wenigen Tagen werden laut dem renommierten Nachrichtenportal newsru.com alle Moskauer einen QR-Code benötigen, um ihr Haus zu verlassen. Mit Hilfe dieses Einmal-Codes werden die Überwachungs- und Strafverfolgungsbehörden die Berechtigung der Bürger überprüfen, das Haus zu verlassen. Das ist in der Regel nur noch einmal täglich erlaubt, bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft, zur nächsten Apotheke, zum Ausführen eines Hundes in 100 Meter Radius, zum Hinaustragen des Mülls, in medizinischen Notfällen oder mit Bestätigung des Arbeitgebers, dass man unbedingt am Arbeitsplatz erscheinen muss.

Bürgerrechtler kritisieren, dass vor allem ältere Menschen ohne Smartphone gar nicht an den QR-Code kommen könnten. Laut Stadtverwaltung soll für sie eine Hotline eingerichtet werden – wie diese funktioniert bzw. den QR-Code ersetzen soll, ist aber unklar.

Zuwiderhandlungen gegen die drastische Ausgangssperre werden mithilfe von allgegenwärtigen Überwachungskameras, Handydaten und den Daten elektronischer Zahlungen, etwa per Kreditkarte oder Apple Pay, kontrolliert. Laut der Zeitung „Kommersant „müssen alle Moskauer auf der Website des Rathauses ihre Adresse, ihre Telefonnummer und ihr Foto registrieren, damit ihr Erscheinen auf der Straße nicht als Rechtsverstoß gilt und sie keine Geldstrafen auferlegt bekommen. Beim Fehlen eines QR-Codes, der nur für ein einmaliges Verlassen der Wohnung gilt und für jeden neuen „Ausgang“ neu beantragt werden muss, sollen Strafen vollautomatisch verhängt und eingezogen werden, unabhängig davon, ob es sich um die Erledigung von Grundbedürfnissen wie Lebensmitteleinkauf, Müllentsorgung oder das Ausführen eines Hundes handelt. Die Höhe der Strafe soll zwischen 1000 und 40.000 Rubeln liegen (11,50 – 461 Euro).

Viele Moskauer klagen bereits in den ersten Tagen der drastischen Ausgangssperre über Klaustrophobie – was auch daran liegt, dass die Wohnverhältnisse vieler Menschen in Russland sehr beengt sind. Immer noch gibt es unfreiwillige Wohngemeinschaften, in denen wildfremde Menschen sich eine Wohnung teilen müssen. Offiziell ist in Russland die Zahl der Corona-Infizierten und Toden sehr gering; Kritiker gehen aber davon aus, dass dies vor allem daran liegt, dass in dem direkt an China angrenzenden und eng mit dem Reich der Mitte verbundenen Land kaum getestet und verschleiert wird.

Juristen und Oppositionspolitiker üben scharfe Kritik an den Maßnahmen. Der Anwalt Alexander Bolomatow bezeichnet das Kontrollsystem gegenüber newsru.com als „absolut beispiellos“. Niemand wisse, wie er darauf reagieren soll, so Bolomatow. Eines der offensichtlichen Probleme sei das Verbot, das Haus ohne QR-Code zu verlassen. Ein Smartphone, einen Computer oder einen Drucker zu haben, sei keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, aber jeder Mensch habe laut Verfassung das Recht, sein Haus zu verlassen, betont der Jurist. Er erinnert daran, dass auch die Gerichte in der Hauptstadt wegen Quarantäne geschlossen sind und damit der Rechtsweg ausgeschlossen ist: „Tatsächlich gibt es keinen Ort, an dem man seine Rechte verteidigen kann“, klagt Bolomatow.

Laut Studien haben nur 55 Prozent der Handynutzer in Russland und 60 Prozent in Moskau ein Smartphone, also ein Gerät mit dem sie problemlos das Internet nutzen können. Deshalb sei es offensichtlich, dass ein großer Teil der Menschen mit den neuen Regeln, insbesondere der Notwendigkeit von QR-Codes, nicht zurecht kommen werde, glaubt der leitende Analyst der Mobile Research Group Eldar Murtasin.

Der Moskauer Stadtduma-Abgeordnete Maxim Kruglow glaubt, dass System zur völligen Überwachung der Bürger in Zukunft „für politische Zwecke gegen Teilnehmer von Straßenprotesten eingesetzt“ werde, schreibt die Zeitung „Kommersant“. Auch wenn der Einsatz von Tracking-Systemen im Katastrophenfall gerechtfertigt sei, bestehe die Gefahr, dass dies später wie in China zu digitalem Autoritarismus führe, so der Abgeordnete.

Der Chefarzt des Moskauer Krankenhauses „Kommunarka“, wo die meisten Corona-Fälle behandelt werden, Denis Protsenko , wurde derweil positiv auf das Coronavirus getestet. Noch am 24. März hatte Protsenko Präsident Putin bei einem Besuch in dem Krankenhaus begleitet. Putin ging in einem speziellen gelben Schutzanzug durch einige Räume der Klinik, aber während eines Gesprächs mit dem Chefarzt trug der Präsident einen normalen Trainingsanzug, wie auf einem Fotos zu sehen ist, das der Pressedienst des Kremls verteilte. Protsenko warnte das Staatsoberhaupt davor, dass in Russland „italienische Zustände“ mit einer großen Anzahl von Kranken und Toten eintreten könnten, wie RBC berichtete. Putin soll zwischenzeitlich negativ auf Corona getestet worden sein, allerdings ist die Inkubationszeit noch nicht zu Ende. Der Stab des Oppositionsführers Alexei Navalny in Moskau fand laut newsru.com heraus, dass der Moskauer Vize-Bürgermeister Maxim Liksutow auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Epidemie seinen minderjährigen Sohn Oskar noch zum Urlaub nach Courchevel schickte. Aus diesem französischen Nobel-Skiort, so hatte Bürgermeister Sergej Sobjanin beklagt, hätten Moskauer Urlauber einen „Koffer mit Viren“ in die Hauptstadt zurückgebracht. Nach seiner Rückkehr kommunizierte der 15-Jährige weiter mit Menschen, nahm an illegalen Straßenrennen teil, für die die minderjährigen Söhne von Reichen und Mächtigen die Autos ihrer Eltern benutzen, und baute dabei auch einen Unfall. Die Verkehrspolizei ignoriere die Rechtsverstöße der minderjährigen Raser aus der Nomenklatura, so Nawalnys Stab. Dies könne daran liegen, dass die Autos Kennzeichen haben, die sie als Regierungsautos ausweisen.

Leonid Wolkow, einer der engsten Mitarbeiter von Oppositionsführer Nawalny, schrieb auf Telegram: „Was das Moskauer Rathaus tut, ist keine Quarantäne, es ist ein digitales Konzentrationslager. Nicht Wuhan, sondern Xinjian.“ Er schreibt: „Schauen Sie sich einfach dieses Dokument an. Anträge über mos.ru für einen „dringenden Ausgang aus der Wohnung zur Erledigung von Grundbedürfnissen“, hundert verschiedene Methoden zur Identifizierung von Verstößen und Bußgeldern, Bußgeldern, Bußgeldern (automatisch festgelegt).“

Weiter schreibt Wolkow: „Natürlich ist es notwendig, dass die Bürger die Quarantäne einhalten müssen (die das Moskauer Rathaus sich nicht traut, ehrlich Quarantäne zu nennen). Natürlich brauchen wir klare Regeln und eine Bekämpfung von Verstößen. Aber unter dem Deckmantel dieses Kampfes schafft das Moskauer Rathaus ein beispielloses System der vollständigen digitalen Überwachung, selbst nach den Maßstäben Chinas, selbst nach den Maßstäben von Schreckens-Science-Fiction-Utopien! Und all das hat keine Rechtsgrundlage. Eines ist klar: Das Coronavirus wird eines Tages verschwinden, und dieses digitale Konzentrationslager wird natürlich bestehen bleiben,“ warnt Wolkow.


Bilder: Pressedienst des Präsidenten der Russischen Förderation/kremlin.ru

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