Mundschutz – Ja! Maulkorb? Nein!

Nachdem ich gestern hier eine ganze Liste mit unglaublichem Behörden- und Regierungsversagen hier veröffentlichte, kam, was kommen musste: Der Vorwurf, so etwas dürfe man nicht veröffentlichen. Von einer Leserin, die ich sehr schätze und persönlich kenne, kam auf facebook dieser Kommentar:

«Solche Beiträge helfen niemandem. Kein Land der Welt war auf diesen Fall vorbereitet, das ist eine Naturkatastrophe. Und niemand kennt die Antwort auf die Frage, was jetzt am besten zu tun ist, es hat die Situation noch nie gegeben. Die medizinische Versorgung in Deutschland gehört zu den besten der Welt, wir können uns glücklich schätzen, dass uns das Virus hier trifft. Das Robert-Koch-Institut leistet hervorragende Arbeit, wir sind bei der Testung gut aufgestellt, haben den Ausbruch viel früher erkannt als etwa Italien, die Informationen zum Thema sind auf höchsten Niveau und überall verfügbar, die Maßnahmen werden je nach Sachlage täglich angepasst, vorher aber sorgfältig abgewogen. Und es gibt bereits extrem viele Maßnahmen. Gegen die Behörden zu hetzen schafft ein Klima des Misstrauens, der Frustration. Wozu führt das? Dass Menschen sich um Klopapier prügeln, Empfehlungen von Behörden nicht ernst nehmen, Desinfektionsmittel von Krebskranken klauen. Wir brauchen jetzt Zusammenhalt. Wenn jeder ganz einfach zuhause bleiben würde und die Zeit nicht zum Schimpfen investieren würde, sondern um sich für die Gesellschaft einzubringen, wäre viel geholfen. Die Schuld auf andere zu schieben ist leicht. Was passiert hängt letztendlich aber von uns Einzelnen ab.»

Auf facebook schrieb mir ein Leser: „So einen Blödsinn verbreitet man nicht. Und Du willst ein Journalist sein den man ernst nehmen soll?“Die Liste solcher Beispiele ließe sich lange fortsetzen. Ebenso wie Hinweise, Deutschland sei das beste Land, um mit dem Virus fertig zu werden. Beim Lesen solcher und anderer Ausführungen, die gleichzeitig andere Länder wie Italien abwerten («Unfähig», «chaotisch») musste ich spontan an die alte Nationalhymne denken: «Deutschland, Deutschland über alles.»

Ein weiterer schrecklicher Gedanke, auf den ich beim Lesen dieser Reaktionen kam, war die Parallele an Kriegszeiten – wo jede Kritik als „Wehrkraftzersetzung“ delegitimiert wird. Ein für die Regierenden sehr bequemer Mechanismus.

Ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen das Versagen unserer Regierung und die Zustände bei uns schönreden. Und ihre Aggression auf diejenigen umleiten, die darauf aufmerksam machen. Auch, wenn genau das deren Beruf ist – als Journalist. Meine Vermutung: Es handelt sich um psychische Schutzmechanismen, die ähnlich funktionieren wie das Stockholm-Syndrom (das Phänomen, das Geiseln nach einer gewissen Zeit Sympathien für die Geiselnehmer entwickeln  sich einreden, die wollten nur ihr bestes, würden sie beschützen etc. – weil sie sonst das Ausgeliefertsein, die Hilflosigkeit nicht ertragen würden; jemanden, der sie auf ihre missliche Lage aufmerksam machen würde, würden sie aggressiv zurückweisen).Ich glaube, es ist schwer für Menschen, sich einzugestehen, dass diejenigen, von denen jetzt die eigene Sicherheit abhängt, nicht in der Lage sind, diese wirksam zu schützen. Oder noch schlimmer: Die Krise ausnützen könnten. Und so gilt immer noch, genauso wie vor 70 Jahren, der große Ausspruch von Kurt Tucholsky: „Im übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.»

Ich halte diese Mechanismen für gefährlich, weil nur in einer wachen Gesellschaft, die den Regierenden streng auf die Finger schaut, diese gezwungen sind, Missstände wirksam zu beheben. Die – zwar viel zu spät, aber doch erfolgte – Schulschließung ist das Musterbeispiel: Ohne den massiven öffentlichen Druck – heute mehr in den sozialen Netzwerken ausgeübt als in den traditionellen Medien – und Unzufriedenheit über deren Unterlassung wäre sie nicht zustande gekommen. Ebenfalls die Grenzschließung.

Ich habe aus meinen 16 Jahren in Russland eine Allergie darauf, wenn mir gesagt wird, Beschreibungen der Wirklichkeit helfen niemanden.

Ich lese gerade die Autobiographie meines guten Freunds, des großen Schriftstellers Wladimir Wojnowitsch, der 2018 verstorben ist. Wiederholt beklagt er sich da, wie oft ihm gesagt wurde in der Sowjetunion, Beschreibungen der Realitäten seien „nicht hilfreich“ (merkwürdig, dass dies auch zum Lieblingswortschatz unserer Kanzlerin gehört).Das Gegenteil trifft zu: Das Verschweigen von Realitäten hilft nicht nur nicht, sondern ist gefährlich.

In der oben zitierten Leserzuschrift steht: „Gegen die Behörden zu hetzen schafft ein Klima des Misstrauens, der Frustration.“

Genau diese Argumentation kenne ich aus Moskau und aus dem Sozialismus. Es ist erschreckend, wie sie sich in Deutschland inzwischen verbreitet haben. Kritik an Behörden ist Grundlage einer Demokratie, nur so können Behörden kontrolliert werden und sich verbessern. Das als „Hetze“ zu bezeichnen – einem Wort, das in diesem Kontext die Nazis geprägt und dann die Sozialisten weiter verwendet haben – halte ich für sehr gefährlich und eine der großen Verfehlungen unserer Zeit. Die Rufe nach Verzicht auf Kritik werden noch stärker werden. Corona wird auch eine massiven Gefahr für die Pressefreiheit mit sich bringen. Hier gilt: Wehret den Anfängen!

Zu fordern, Journalisten sollten in der Krise die Regierung unterstützen, statt zu kritisieren, ist so, wie wenn man mit Zahnschmerzen zum Zahnarzt kommt und darauf besteht, denn Mund nicht zu öffnen und von ihm nur getröstet zu werden.

Schon jetzt wird wegen Corona individuelle Freiheit mehr eingeschränkt als jemals in der Bundesrepublik. Ich fürchte auch massive Einschränkungen der demokratischen Grundprinzipien und starke Staatseingriffe in die Wirtschaft bis hin zur Währung – es gibt hier bereits sehr beunruhigende Warnungen, auch aus dem Bundestag (später ggf. mehr auf dieser Seite). In Zeiten großer Krisen ist immer auch die Demokratie in Gefahr. Umso wichtiger ist die Kontrolle der Mächtigen gerade jetzt! Umso fehlerhafter wäre es, ihnen als Journalist jetzt „Solidarität“ entgegen zu bringen – anstatt dem gesunden Misstrauen, das unseren Beruf ausmacht: Aufgabe von Journalisten ist es, Fehler und Missstände aufzudecken. Das ist keine Hetze, sondern ihre wichtigste Pflicht.  Und nicht, über diese zu schweigen, weil manche glauben, zu berichten nütze niemandem.

Wer so argumentiert, begibt sich in Geiselhaft der Behörden und Regierung. Deren Kontrolle ist in Zeiten von Corona wichtiger denn je. Zu dem Mundschutz, den wir gegen des Virus bald tragen müssen, darf nicht auch auch noch ein Maulkorb kommen!

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