„Schlimmer als Afrika“ INNENANSICHTEN AUS RUSSLAND

Das System Putin als Alternative für Deutschland? Ausgerechnet der berühmte Regisseur Andrei Kontschalowski, sonst ein treuer Putin-Gefolgsmann, hat in einer dramatischen Analyse mit nüchternen Zahlen die ganze Tragik der Situation in Russland zusammengefasst: Der Mann aus der Nomenklatura zieht ein vernichtendes, erschütterndes Fazit: „Ich will auf mein Heimatland stolz sein, aber ich schäme mich dafür!“ Auszug: „Bei uns gibt es zwischen zwei und fünf Millionen obdachlose Kinder (nach dem Großen Vaterländischen Krieg waren es 700.000)…“ Ein sehr wichtiger Text, aus dem Jahr 2016, aber aktueller denn je. Kontschalowskis Vater Sergej Michalkow (auf dem Bild unten mit Putin) war übrigens der Autor der Nationalhymnen unter Stalin, Breschnew und Putin (!), sein stramm nationalistischer Bruder Nikita Michalkow gilt als einer der engsten Berater und Vordenker Putins – ein strammer russischer Nationalist und Imperialist. Interessant ist, wie Kontschalowski seine Bestandsaufnahme so verpackt, als sei sie keine Kritik an Putin – denn eine solche wäre gefährlich für ihn. Schuld an allem seien, so der Regisseur, die Demokraten der 1990er Jahre (also ob Putin 2016 nicht schon 16 Jahre an der Macht gewesen wäre), und der Ausweg liege in einer autoritären Führung (als ob die nicht diese ganzen 16 Jahre ihre Unfähigkeit demonstriert und die geschilderten Missstände ganz wesentlich mit zu verantworten habe.

Wohin sind wir unterwegs? Das Ausmaß unserer Tragödie in trockenen Zahlen.

Von Andrei Kontchalowski

Ich möchte Sie auf einige erschütternde Zahlen und Fakten hinweisen, die klar belegen, dass Russland sich nach vielen Parametern nicht in Europa und nicht einmal in Asien befindet: nach dem Grad der Korruption, nach der Lebenserwartung, nach  der Höhe der Investitionen in die Wissenschaft und ähnlichem befinden wir uns in Afrika.

Ich sage sogar mehr – nicht wir sollten wegen dieses Vergleichs beleidigt sein, sondern die Afrikaner! Die Afrikaner haben eine Erklärung für ihr Zurückliegen: sie wurden vier Jahrhunderte von „Ankömmlingen“ ausgebeutet und vernichtet, von Rassisten und Kolonialherren; aber wer hat uns, Russen, in den letzten vierhundert Jahren kolonisiert, unterdrückt – außer uns selbst?

Also, wir ignorieren oft die Statistik – jetzt kommt Statistik –  denn in trockenen Zahlen ist es schwierig, die Realität mit dem Verstand zu erfassen. Aber das Ausmaß der Tragödie, die derzeit auf dem Gebiet Russlands stattfindet, ist so kritisch, dass ich sie dringend Ihrer Aufmerksamkeit empfehle.

Sterblichkeit in Russland– In den letzten 20 Jahren sind in Russland über 7 Millionen Russen gestorben. Nach diesem Parameter überholen wir Brasilien und die Türkei um 50 % und Europa um einige Male.- Jährlich verliert Russland, nach der Bevölkerungszahl betrachtet, ein ganzes Gebiet (oblast‘) von der Größe des Pskover Gebietes, oder einer großen Stadt wie etwa Krasnodar.- Die Zahl der Selbstmorde, Vergiftungen, Tötungsdelikte und Unglücksfälle

in Russland ist mit der Sterblichkeit in Angola und Burundi zu vergleichen.- Die Lebenserwartung von Männern in Russland liegt ungefähr auf dem 160. Platz weltweit, hinter Bangladesch.- Russland steht weltweit an erster Stelle bei den absoluten Zahlen des Bevölkerungsrückgangs.- Nach Schätzung der UNO wird die Bevölkerungszahl Russlands von derzeit 143 Millionen Menschen bis zum Jahr 2025 auf 121 – 136 Millionen sinken.

Die Krise der Familie– Acht von zehn alten Menschen, die in Altersheimen leben, haben Verwandte, die in der Lage wären sie zu unterstützen. Dennoch werden sie in Heime geschickt! Die Verwandten haben sich von ihnen losgesagt.- Bei uns gibt es zwischen zwei und fünf Millionen obdachlose Kinder (nach dem Großen Vaterländischen Krieg waren es 700.000).In China gibt es bei einer Bevölkerungszahl von 1,4 Milliarden nur 200.000 Obdachlose  Kinder, d.h. hundert Mal weniger als bei uns! So einen Stellenwert haben Kinder bei den Chinesen! Denn die Sorge um Alte und Kinder ist doch die Grundlage für eine blühende Nation.- 80 % der 370.000 Kinder, die in Kinderheimen sind, haben lebende Eltern.Aber sie werden vom Staat versorgt! Ich halte das überhaupt für ein Verbrechen.- Wir nehmen weltweit den ersten Platz ein bei der Anzahl von Kindern, die von ihren Eltern im Stich gelassen werden.All‘ diese Zahlen zeugen von der Erosion, dem Zerfall von Familienwerten bei uns im Land…

Straftaten gegen Kinder– Nach Angaben des Ermittlungskomittees der Russischen Föderation wurden 2010 100.000 Minderjährige Opfer von Straftaten – davon wurden 1700 Kinder vergewaltigt und getötet (nach diesen Zahlen überflügeln wir Südafrika). Das bedeutet, dass jeden Tag in Russland vier bis fünf Kinder getötet werden.

– 2010 wurden in Russland 9500 Sexualstraftaten gegen Minderjährige begangen – darunter 2600 Vergewaltigungen, 3600 Sexualkontakte ohne Gewalt (innerhalb von acht Jahren sind Sexualstraftaten fast um das Zwanzigfache gestiegen).Bei diesen Straftaten werden wir nur von Südafrika überholt.

Drogen- und Alkoholsucht– 30.000 Russen sterben jährlich an einer Überdosis Drogen (die Einwohnerzahl einer Kleinstadt).- Im Jahr sterben an Wodka 70.000 Menschen.In Afghanistan starben während des Krieges 14.000 unserer Soldaten!- Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation entfallen auf einen Bürger Russlands 15 Liter reiner Alkohol pro Jahr; dabei ist das Überleben einer Nation bedroht, wenn pro Person mehr als acht Liter reiner Alkohol konsumiert werden.

Korruption.Die Höhe von Bestechungsgeldern in Russland hat sich verzehnfacht. Und die Gerichtsverfahren, die unsere Oligarchen gegeneinander in London führen, wurden zur Zielscheibe des Spotts in der internationalen Geschäftswelt.

Die Straflosigkeit in der Rechtssphäre ging soweit, dass gegen den im Gefängnis gestorbenen Juristen Sergej Magnitskij ein Strafverfahren eingeleitet wurde – d.h. man hat entschieden, einen Toten zu richten, der sich selbstverständlich nicht selbst verteidigen kann!In Europa kam Vergleichbares zuletzt im 17. Jahrhundert vor, als Cromwell exhumiert und zum Galgen gezerrt wurde, sozusagen als nacheilende Rechtspflege!Insofern kann man vor dem Hintergrund der angeführten Zahlen von einem Sinken der nationalen Sittlichkeit sprechen – und letztlich liegt die Verantwortung dafür bei unseren Machthabern.

Und jetzt – wussten Sie, dass:- In den letzten zehn Jahren in Sibirien 11.000 Dörfer und 290 Städte verschwunden sind;- die mittlere Bevölkerungsdichte in Sibirien und im Fernen Osten bei zwei Menschen pro Quadratkilometer liegt;- die mittlere Bevölkerungsdichte im Zentralen Teil Russlands bei 46 Menschen pro Quadratkilometer liegt;- die mittlere Bevölkerungsdichte in China bei 140 Menschen pro Quadratkilometer liegt;- die mittlere Bevölkerungsdichte in Japan bei 338 Menschen pro Quadratkilometer liegt;Für wen haben wir Sibirien und die Kurilen erobert und erschlossen?Wie es aussieht für die Chinesen und Japaner!

Für ein Land mit einem solchen Reichtum an Ressourcen bei Natur und Wasser ist es eine Schande, wenn 50 % der Bevölkerung arm sind.

Ich bin verblüfft und bestürzt über diese Zahlen. Ich hoffe, Ihnen geht es ebenso. Ich bin überzeugt, dass Putin alle Fakten kennt – es wäre interessant, was er dazu denkt.

So tragisch es ist – ich denke, dass das offensichtlich noch nicht das Äußerste ist, nicht das Schlechteste, wir haben den tiefsten Punkt noch nicht erreicht und das Volk ist noch nicht reif, über sich selbst zu erschrecken, und schließlich Mut für die Frage aufzubringen „Wo leben wir?“.Wir haben uns an den Gestank in Treppenhäusern und Toiletten gewöhnt! Wir sind es gewohnt, dass um uns herum getötet wird. Wir sind es gewohnt, dass Menschen in russischen Städten und Dörfern buchstäblich um ihr Leben kämpfen.

Anatolyj Ermolin, ein Jornalist, der in Kutschschjovskaja [Anm.: In Kutschschjovskaja bei Krasnodar wurden 2010 zwölf Personen, darunter vier Kinder, getötet, die Täter gehören zur kriminellen Vereinigung um Sergej Tsapok] geboren ist, hat es so formcovereduliert: „Wenn in Kutschschjovskaja nicht direkt zwölf Menschen getötet worden wären, sondern sich sechs Morde zu je zwei Opfern ereignet hätten, hätte das niemand bemerkt, so wie es normalerweise in unserem Land geschieht.“

Wer in Russland weiß nicht, dass es „Kutschschjowka“ nicht nur in Krasnodar gibt – es existiert im ganzen Land! Dass kriminelle Kumpel und Tsapok-Leute die tatsächlichen Machthaber sind, die Ihr selbst als Eure lokalen Abgeordneten wählt! Jeder weiß in seinem Dorf, wer der „Coole“ ist, wer Verbindungen zu Polizei und Staatsanwaltschaft hat.Der Kreml erweckt nur den Anschein, dass er die Korruption

bekämpft, wenn er Dutzende Generäle des Innenministeriums kündigt, Beamte auf der mittleren Ebene, Gouverneure. Großzügig wandelt er ihre Exekution in eine „verdiente Erholung“ in Dubai und an der Côte d’Azur um! Denken die Machthaber ernsthaft, dass sie so die Korruption beenden? Andererseits wählt Ihr im ganzen Land als lokale Machthaber Kandidaten, denen auf die Stirn geschrieben steht „Ich bin ein Dieb“, und wundert Euch dann, dass die Machthaber korrupt sind!

Und ich denke, ob wirklich die halbe Nation aussterben und die Russen bis zum Ural „zusammengedrängt“ werden müssen, damit das Volk aufwacht (ich wiederhole: das Volk und nicht eine winzige Gruppe denkender Menschen!) und von den Machthabern nicht angenehme, beruhigende Nachrichten und weitere Versprechungen einfordert, sondern die Wahrheit und vor allem das Eingeständnis, wie schlecht es jetzt steht!

Erinnern Sie sich: 1941 trat eine Katastrophe ein – Stalin war dazu gezwungen. 1956 spürten die Bolschewiken, dass die Rechnung für jahrzehntelangen Terror droht – Chrutschschow war dazu gezwungen. Und heute nähert sich Russland einer demographischen und moralischen Katastrophe, die es noch nie erlebt hat!

Diese Tatsache hängt mit vielen Umständen zusammen.Der wichtigste ist die verantwortungslose Wirtschaftspolitik der 90er Jahre, die auf Menschen mit einem feudalen Bewusstsein einstürzte, die nie Privateigentum an Land und Kapitalismus kannten; Menschen, die innerhalb der vergangenen 70 Jahre jeglichen Impuls zu eigenem Unternehmergeist endgültig verloren haben.

Was ist zu tun?Nun, der Journalist Michail Berg bloggt: „Wir leben in einem Land, aber wir haben zwei Völker. Ein winziges Häuflein Denkender, die die große Freiheit und ehrliche Wahlen brauchen, und eine „verdöste“ Masse russischer Spießbürger. Und zwischen ihnen liegt ein Abgrund aus Angst, aus der stärksten und gefährlichsten Angst, und sozialem Misstrauen… Man kann die „Partei der Betrüger und Diebe“ [Anm.: Bezeichnung für die regierende Partei „Einiges Russland“] bekämpfen; man kann die russische Beamtensaat tadeln, die durch sich selbst die ganze russische Geschichte besudelt hat. Aber man kann nicht die Tatsache beseitigen, dass sich die überwiegende Mehrheit der russischen Bevölkerung in ihren grundlegenden Charaktereigenschaften bereits seit Jahrhunderten nicht ändert!…“So traurig es ist – ich muss ihm zustimmen. Ich ergänze noch: Eure Unterdrücker kommen aus Euren Reihen!

Deswegen weiß ich nicht, was zu tun ist, außer Euch aufzurütteln und dazu zu bringen, dass Ihr Euch vor Euch selbst erschreckt.

Julija Latynina [Anm.: Journalistin bei Echo Moskau] hält mich nicht nur für einen Pessimisten, sondern für einen „Defätisten“ – mir allerdings scheint es, dass man einen Menschen motivieren kann, wenn er bei Bewusstsein ist und sich retten will. Wenn er aber ohnmächtig ist oder in lethargischen Schlaf? Manchmal ohrfeigt ein Arzt einen Menschen, um ihn zu Bewusstsein zu bringen.

Ich weiß, was ich als Antwort hören werde; ich habe es schon oft gehört. Ich verstehe allerdings, dass, wenn wenigstens ein Drittel meiner Leser und Zuhörer mir beipflichten würden, RUSSLAND DANN EIN ANDERES LAND WÄRE.

Ich bin überzeugt: Russland braucht eine Führerfigur, die den Mut eines Peters des Großen hat, um den Menschen Worte zu sagen, die sie lange nicht gehört haben.Das wird eine bittere Wahrheit sein; denn es ist schwer zuzugeben, dass Russland nicht vorwärts kommen kann, weil es nicht verstehen will, wie weit es in seiner zivilisatorischen Entwicklung hinter Europa zurück ist.

Ich verstehe, dass der Anführer einer Nation, ein Politiker, die ungeheure Last politischer Verantwortung trägt und im Regelfall nicht frei sprechen kann.

Aber heute kann nur ein bestimmtes und beflügelndes Wort, sei es auch schonungslos, aber dafür lebendig und aufrichtig, zum Anlass werden für ein nationales Erwachen aus dem feudalen Winterschlaf.Erst wenn das getan wurde besteht Hoffnung, dass die Nation in ihrer intuitiven Weisheit  es verstehen wird und diesen schwierigen und vielleicht grausamen Weg annimmt, der als einziger unser Land aus dem Elend führen kann, in dem wir stecken.

Ich weiß nicht, ob Wladimir Wladimirowitsch Putin zu einer derart selbstmörderischen Tat in der Lage ist. Ist er fähig, den „eisernen Besen“ in die Hand zu nehmen und die Gleichheit ALLER vor dem Gesetz zu verkünden? Aller ohne Ausnahme. Wenn er dazu in der Lage ist, gebührt ihm ein Ehrenplatz im Pantheon der Russischen Geschichte. Wenn nicht… dann weiß ich nicht…

Ich bin Russe, mir fehlt mein Heimatland, aber ich „sehe es nicht“!Ich sehe kein Land, auf das ich stolz sein will. Ich sehe eine Menge unzufriedener, erzürnter Gesichter und fremde Menschen, die voreinander Angst haben!

Ich will auf mein Heimatland stolz sein, aber ich schäme mich dafür!

Wann war ich das letzte Mal auf das Heimatland stolz? Ich erinnere mich nicht! Aber ich weiß sicher, dass die WAHRHEIT darüber, in welchem Zustand sich unser Volk befindet, die WAHRHEIT, die laut vor der ganzen Welt ausgesprochen wird, mich und nicht nur mich, stolzer machen würde, als der Sieg unserer Hockeyspieler bei der Olympiade.


Russisches Original


Bilder: Igor Gavrilov, kremlin.ru, Wikipedia.
Anmerkungen von Boris Reitschuster von 2016:
Ein sehr wichtiger Text. Wenn man diese bittere Realität kennt, versteht man, warum der Kreml sein Heil in Ablenkung der Menschen in außenpolitischen Abenteuern sucht und ihnen einredet, die NATO sei ihr größtes Problem.

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