Warum Schweigen besser gewesen wäre

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

Ihre heutige Rede hat mich sehr befremdet. In Teilen erinnert sie mich an Reden, wie man sie aus sozialistischen Staaten kennt: Da wird ein Ist-Zustand beschrieben, der schön klingt, aber wenig mit der Realität zu tun hat, da werden Dinge beschworen, die unrealistisch sind, da werden Missstände einfach unter den Teppich gekehrt. Da wimmelt es nur so an schön klingenden Phrasen und Aussagen, die sich bei genauerem Abklopfen aber als so leer erweisen wie die Zentralhalle des neuen Berliner Flughafens. Was mich am meisten stört: Dass Sie die Adressaten nicht wie mündige Bürger behandeln – sondern wie kleine Kinder.

Dass Sie kein guter Redner sind und das Charisma einer Büroklammer haben, besonders wenn Sie, steif bis in die Knie, ohne Emotionen mit starrem Blick auf den Teleprompter in der Kamera Ihren Text vorlesen, sei Ihnen nicht einmal angekreidet. In Situationen einer festgefahrenen Parteienlandschaft erfolgt der Aufstieg eben mehr nach Kriterien des Apparates und der Bürokratie als nach den Kriterien, die in einer Krise wichtig wären, wie Führungsstärke, Mut zum Anpacken, Empathie und Charisma. Niemand kann Ihnen vorwerfen, dass Sie – leider – kein Helmut Schmidt sind.

Und wer sich mit Ihrer Karriere befasst hat, konnte auch nicht von Ihnen erwarten, dass Sie über sich hinauswachsen würden – Sie schafften das auch nicht im Angesicht der massiven, dramatischen Spaltung, die unser Land zu zerreißen droht. Wie kein Bundespräsident vor Ihnen schütteten Sie ständig Öl ins Feuer, statt dieses zu löschen, mischten sich parteiisch, alles andere als neutral in die innenpolitischen Konflikte ein und haben damit Ihr Amt schon vor der Krise erheblich beschädigt.

Durch Ihre heutige Rede komme ich mir als Bürger für dumm verkauft vor, für unmündig gehalten. Ich sehe in ihr einen Versuch, mir mit hehren Phrasen Sand in die Augen zu streuen. Der Effekt wird noch verschärft durch Lobhudelei in verschiedenen Medien – etwa, wenn die Ihre Rede als „außergewöhnlich“ preisen – und damit sicher eine ganz andere „Außergewöhnlichkeit“ meinen, als ich ihr im Zweifelsfall bescheinigen würde.

Sie sagten: „Die Krise…zeigt uns auch, wie stark wir sind! Worauf wir bauen können!

Ich bin tief beeindruckt von dem Kraftakt, den unser Land in den vergangenen Wochen vollbracht hat.“

Was genau ist dieser Kraftakt? Dass wir die Hilferufe aus Krankenhäusern, von Medizinern, denen dringendste Schutzmittel fehlen, in den großen Medien weitgehend ignorieren? Und dafür Ihr Außenminister heute stolz verkündete, viele Tonnen der im Inland dringend benötigten Schutzmittel ins Ausland geliefert zu haben?

Weiter sagten Sie „Noch ist die Gefahr nicht gebannt. Aber schon heute können wir sagen: Jeder von Ihnen hat sein Leben radikal geändert, jeder von Ihnen hat dadurch Menschenleben gerettet und rettet täglich mehr.“Ich will keinen Honig um den Mund geschmiert. Die Faktenlage ist im Moment noch sehr dünn. Mag sein, dass Sie Recht haben. Mag sein, dass nicht. Können wir uns solches Selbstlob nicht für später aufheben?

Sie sagten: „Es ist gut, dass der Staat jetzt kraftvoll handelt – in einer Krise, für die es kein Drehbuch gab. Ich bitte Sie auch alle weiterhin um Vertrauen, denn die Regierenden in Bund und Ländern wissen um ihre riesige Verantwortung.“

Der Staat hat lange genug gar nicht gehandelt, jetzt handelt er sehr kraftvoll, derart, dass er in Teilen völlig überzieht – etwa wenn Parkbänke umzäunt werden, damit sich niemand drauf setzt, oder Menschen wie die Schriftstellerin Monika Maron von ihrem Zweitwohnsitz ausgewiesen werden, von dort, wo sie ständig leben. Oder wenn eine Rechtsanwältin, die massiv klagt gegen die Maßnahmen, auch beim Bundesverfassungsgericht, Besuch von der Polizei bekommt und ihre Internet-Seite auf Anweisung der Polizei abgestellt wird? Ich muss ganz ehrlich sagen: Von „weiterhin“ vertrauen ist bei mir keine Rede. Allenfalls von einem „Vertrauen auf Bewährung“.

Weiter sagten Sie: „Doch wie es jetzt weitergeht, wann und wie die Einschränkungen gelockert werden können, darüber entscheiden nicht allein Politiker und Experten. Sondern wir alle haben das in der Hand, durch unsere Geduld und unsere Disziplin – gerade jetzt, wenn es uns am schwersten fällt.“

Auch das ist wieder Augenwischerei. Und Sie streuen den Zuhörern damit Sand in die Augen. Statt irgend welche klaren, nachprüfbaren Kriterien zu nennen, wann die beispiellosen Eingriffe in die Grundrechte zu Ende gehen, oder wenigstens zu sagen, wie und wann sie überprüft werden, sagen Sie: „Wir alle haben das in der Hand“. Nein, Herr Bundespräsident, bitte verkaufen Sie uns nicht für dumm! Ich habe das nicht in der Hand, und auch nicht meine Mitbürger, sondern der Staat, dessen oberster Repräsentant sie sind, und seine gewählten Amtsträger. Bitte wälzen Sie nicht Ihre Verantwortung auf so billige Weise auf uns ab!

Sie sagten: „Den Kraftakt, den wir in diesen Tagen leisten, den leisten wir doch nicht, weil eine eiserne Hand uns dazu zwingt. Sondern weil wir eine lebendige Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgern sind!“Entschuldigung, das klingt für mich wie eine Rede von einem sozialistischen Generalsekretär. Natürlich schränken die meisten von uns ihre Freiheit so enorm ein, weil uns der Staat dazu zwingt. Und nicht einmal von der „eisernen Hand“ lassen sich viele dazu zwingen. Verlassen Sie doch mal Ihren Elfenbeinturm in Schloss Bellevue, Herr Bundespräsident, und gehen Sie nach Gesundbrunnen, das wäre fußläufig von Ihnen aus zu erreichen – da werden Sie sehen, wie groß der „Kraftakt“ bei Selbstisolation und Kontaktvermeidung ist. Und wie passt es zur „lebendigen Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgern“, die Sie beteuern, dass eine Demonstration von 40 Bürgerrechtlern in Berlin Mitte von der Polizei aufgelöst und die Teilnehmer angezeigt werden, während bei einem Treffen von 300 Muslims in Berlin Neukölln die Polizei nicht eingreift und niemand angezeigt wird?

Weiter sagten Sie: „Eine Demokratie, in der wir einander zutrauen, auf Fakten und Argumente zu hören, Vernunft zu zeigen, das Richtige zu tun. Eine Demokratie, in der jedes Leben zählt – und in der es auf jede und jeden ankommt: vom Krankenpfleger bis zur Bundeskanzlerin, vom Expertenrat der Wissenschaft bis zu den sichtbaren und unsichtbaren Stützen der Gesellschaft – an den Supermarktkassen, am Lenkrad von Bus und LKW, in der Backstube, auf dem Bauernhof oder bei der Müllabfuhr.“

Wunderschöne Worte. Doch werden die Kassiererinnen, die Busfahrer, die Lkw-Fahrer, die Bäcker, die Bauern und die Müllwerker davon auch etwas haben? Längerfristig? Auf ihren Lohnzetteln? Also wenn, dann kündigen Sie bitte etwas Konkretes an. Etwa: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Lohn für ihre Mehrarbeit in der Krise steuerfrei bleibt“. In Russland, wo ich 16 Jahre gelebt habe, sagt man: Schöne Worte kann man sich nicht aufs Brot schmieren.

Sie sagten: „Und natürlich weiß ich: Wir alle sehnen uns nach Normalität. Aber was heißt das eigentlich? Nur möglichst schnell zurück in den alten Trott, zu alten Gewohnheiten?“Bitte machen Sie sich nicht lustig über die Sehnsucht von mir und Millionen Menschen, wieder alte Gewohnheiten leben zu können. Ob das jetzt der Schulbesuch ist für Kinder, der Gottesdienstbesuch für Gläubige, der Sport für aktive Menschen – nein, Herr Bundespräsident, es geht nicht um „alten Trott“! Ich empfinde diese Worte geradezu als Hohn! Das ist so, wie wenn sie einem Hungernden sagen: „Sehn dich doch nicht nach den blöden Würsten!“ Etwas mehr Empathie sollten Ihre Redenschreiber da schon aufbringen!

Weiter sagten Sie: „Nein, die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Das liegt an uns! Lernen wir doch aus den Erfahrungen, den guten wie den schlechten, die wir alle, jeden Tag, in dieser Krise machen.“Auch da verkaufen Sie uns wieder für blöde. Die Wirtschaft hat gelitten wie noch nie, ebenso die Grundrechte, viele stehen vor dem wirtschaftlichen Ruin, es droht eine Wirtschaftskrise mit unzähligen Arbeitslosen und vernichteten Existenzen, wie sie die jetzt und „hier Lebenden“ noch nie gekannt haben – und Sie sagen – „die Welt wird eine andere sein – und wie, das liegt an uns?“ Bitte streifen Sie verdammt nochmal die Verantwortung nicht auf uns ab!

Sie sagten: „Wir stehen jetzt an einer Wegscheide. Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können. Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen?“

Das ist in etwa so, wie wenn man sagt: „Sind Sie lieber arm und krank oder reich und gesund`“ Alles, was sie da darlegen, hat das Niveau eines Erstklass-Aufsatzes. Aber wir sind keine Kinder. Und Sie kein Prediger. Sie sind Bundespräsident! Sie haben eine Verantwortung! Wir bezahlen Sie aus unseren Steuergeldern nichts fürs Phrasen-Dreschen.

Sie fahren genau in diesem Lehrer-Priester Modus fort, und ich erspare mir es, all die Phrasen, Allgemeinplätze und Aufrufe zum Guten und zum Schönen, die weiter folgen, im einzelnen hier zu kommentieren. Beispiel EU: Die zeigt gerade, wie überfordert sie ist, wie stark die Rückfälle in die Kleinstaaterei sind – und alles, was Ihnen dazu einfällt, ist eine Phrase wie diese: „Diese blaue Fahne hier steht nicht ohne Grund dort. Dreißig Jahre nach der Deutschen Einheit, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges sind wir Deutsche zur Solidarität in Europa nicht nur aufgerufen – wir sind dazu verpflichtet!“ Wer würde das bestreiten! Nur ist diese Phrase so sinnvoll wie zu sagen: „Bitte vergessen Sie nicht zu atmen, liebe Bundesbürger, wir sind zum Atmen geradezu verpflichtet!“

Phrasen allein schaffen keine Substanz. Im Gegenteil. Als Beispiel nenne ich nur noch Ihren Schlussabsatz; „Vieles wird in der kommenden Zeit sicher nicht einfacher. Aber wir Deutsche machen es uns ja auch sonst nicht immer einfach. Wir verlangen uns selbst viel ab und trauen einander viel zu.“

Sie beleidigen mit Ihrer Rede meinen Intellekt, Herr Bundespräsident! Und genauso diejenigen Journalisten-Kollegen, die sich jetzt vor Lob überschlagen. Auch mit Ihrer Oster-Rede spalten Sie das Land: Wer sich als mündiger Bürger sieht, als Arbeitgeber der Politiker, kommt sich veräppelt vor, entmündigt, wenn das Staatsoberhaupt mit ihm wie ein Erzieher spricht, wie mit einem Kind. Wer hingegen Halt bzw. „Haltung“ sucht und eine starke, autoritäre Hand in der Krise braucht, der ist angetan von Ihrem Auftritt (siehe P.S.: unten).

Ich als mündiger Bürger, der sich als Vertreter des Souveräns sieht, und damit auch als Ihr Chef, hätte mir von Ihnen folgende Konkreten Punkte gewünscht, ja erwartet:

  • Ideen, Ausblicke, wie und wann die Einschränkungen gelockert werden können, bzw. ersatzweise klare Aufforderungen diesbezüglich an die Verantwortlichen
  • Eine klare Aufforderung an dieselben, diese Einschränkungen minimal zu halten – zeitlich wie inhaltlich, und Augenmaß zu wahren
  • Eine Mahnung vor der selbst innerhalb des Landes wieder erstandenen Kleinstaaterei.
  • Überlegungen zur Abwägung Freiheit/Grundrechte und Gesundheit/Leben.
  • Selbstkritik und Kritik an der langen Untätigkeit der Regierung.
  • Aufforderung, nicht mit zweierlei Maß zu messen wie in dem Beispiel mit der Moschee.
  • Eine kritische Stimme zur Rolle der Medien, insbesondere der öffentlich-rechtlichen.
  • Klare Worte zur Problematik der Einschränkung von Grundrechten.
  • Entschuldigung beim medizinischen Personal für elementaren Mangel an minimaler Schutzausrüstung.
  • Betonung, wie wichtig Opposition und Kritik auch in der Krise ist, Stärkung von Kritikern.
  • Versuche, die Spaltung im Land angesichts der Krise zu überwinden.
  • Klare Worte zur Zukunft der EU, wie sie noch zu retten ist.
  • Klare Worte zu den Falschinformationen, die dieser Tage massiv verbreitet wurden gegenüber wichtigen Bündnispartnern wie den USA, Großbritannien und osteuropäischen Staaten.

All das sind Sie schuldig geblieben.

So musste ich während Ihrer ganzen Rede immer wieder an einen Satz aus der russischen Kaugummi-Reklame denken: „Manchmal ist es besser, zu kauen, als zu reden.“Mit freundlichen Grüßen Boris Reitschuster

P.S.: Ich maße mir nicht an, dass ich eine bessere Rede gehalten hätte (bzw. mir von Redenschreibern hätte zusammenschreiben zu lassen). Und vielen anderen geht es sicher genauso. Aber das ist auch einer der Gründe, warum wir selbst eben nicht in die Politik gegangen sind.

P.S.: Ebenso erstaunlich wie Steinmeiers (und übrigens auch Merkels) Art, die Bürger wie Kinder zu behandeln, ist die Nachfrage danach – hier ein paar Reaktionen von Twitter. Bezeichnend ist, dass sie im wesentlich nur auf Emotionen bauen und Hoffnung auf die gute Regierung/den guten Papa/Mutti:


Bild: Präsidialamt der Ukraine via Wikicommons

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