Ukrainische Reifeprüfung: warum der alternativlose Poroschenko scheiterte

Die vernichtende Niederlage des bisherigen ukrainischen Präsidenten ist auch ein Fanal für seine wichtigste Beschützerin im Westen – Bundeskanzlerin Merkel. Beide haben mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint.

 

 

Eine Analyse von Boris Reitschuster

Was für eine Entscheidung! Die Wähler in der Ukraine demütigten den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko regelrecht. Mit gerade einmal 24,5 Prozent ging er unter in der Stichwahl gegen den Politik-Neuling Wolodymyr Selenskyj. Umso merkwürdiger erscheint es, dass Angela Merkel bis zuletzt auf den so gut wie sicheren Verlierer setzte, und damit den Sieger düpierte.


Die Nähe zwischen Merkel und Poroschenko erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Auf den zweiten gibt es einiges, was den gescheiterten ukrainischen Präsidenten mit Angela Merkel verbindet. Beide erfuhren ihre politische Sozialisation in den jeweiligen kommunistischen Jugendverbänden – der Ukrainer im Komsomol, die Deutsche in der FDJ. Für beide spielt beziehungsweise spielte der Begriff der Alternativlosigkeit eine zentrale Rolle – vor allem als Alternativlosigkeit zu ihrer eigenen Person. Und vor allem setzen beide massiv auf Feindbilder – um den Preis, ihre Länder damit stark zu polarisieren.

 

Beides, Alternativlosigkeit und Feindbild, drückte sich besonders sinnfällig in einem Poroschenko-Wahlplakat aus: Ein verwegen dreinblickender Präsident auf schwarzem Hintergrund – und der russische Staatschef Putin, der ihm grimmig entgegenblickt. Ein Duell der Häuptlinge.

 

Darunter stand: „Die entscheidende Wahl“. So, als ob die Wähler nicht zwischen dem amtierenden Präsidenten und dem Herausforderer entscheiden müssten, sondern nur zwischen dem Staatschef und dem äußeren Feind.

Doch sein Versuch, den Popanz der „Alternativlosigkeit“ aufrechtzuerhalten, brach in sich zusammen, als sich mit dem Herausforderer Selenskyj eine echte Alternative auftat. Denn Selenskyj richtete den Blick vieler Ukrainer wieder auf die massiven Probleme im eigenen Land. Darauf, dass es einer Mehrheit der Ukrainer heute wirtschaftlich deutlich schlechter geht als vor der Revolution auf dem Maidan. Gegen Poroschenko und dessen Umgebung – das wiederum unterscheidet ihn von Merkel – gibt es massive Korruptionsvorwürfe. Sein Versprechen vor den letzten Wahlen, sein Firmenimperium abzugeben, hielt er nicht ein. Statt auf Diskussionen setzte er auf das Schüren der Angst: Immer wieder stellte er seinen Herausforderer Selenskyj als Marionette hin, abwechselnd als eine von Putin, und dann von seinem Oligarchen-Kollegen und Intimfeind Igor Kolomojskij. Dass sich beides ausschließt, da Kolomojskijfederführend an der Abwehr der russischen Aggression in der Ost-Ukraine war, ließen Poroschenko und seine Wahlkämpfer unter den Tisch fallen.

 

Größere Teile der ukrainischen TV-Medien standen stramm an der Seite Poroschenkos. Manche Journalisten überschlugen sich geradezu in Agitation für den Staatschef. Der bekannte Fernsehmoderator Taras Beresowez von Poroschenkos Hauskanal „Priamij“ ging so weit, vor dem ersten Wahlgang angebliche Prognosen zu veröffentlichen, die nur den Träumen von Poroschenko und seinem Team entsprungen sein konnten. Und als das Feuer in Notre-Dame wütete, postete Beresowets: „Macron hat Glück gehabt, dass nach dem Besuch von Selenskyj nur Notre-Dame gebrannt hat. Auch der Elysee-Palast hätte in Flammen aufgehen können.“
Viel tiefer kann das Niveau nicht mehr sinken.

 

Wer ist der neue ukrainische Präsident, der sich gegen diese Propaganda durchsetzte? In deutschen Medien heißt es über ihn meist, er sei ein „Komiker“. Das ist eine ziemliche Verkürzung. Selenskyj hat sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet; sein Vater ist zwar Professor, gehört damit aber in der Ukraine zu den Geringverdienern. Selenskyj wurde als Komiker auch über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannt, wobei Kabarettist im Deutschen wohl die treffendere Bezeichnung wäre. Gleichzeitig machte der Selfmade-Mann eine beeindruckende Karriere als TV-Unternehmer, ein Aspekt seiner Laufbahn, der in Deutschland oft unterschlagen wird. Er führte als Manager gleichzeitig sechs Fernsehkanäle; zudem ist er Gründer und künstlerischer Leiter der Produktionsfirma „Studio Kvartal 95“. Am bekanntesten wurde er durch die Hauptrolle in der TV-Serie „Diener des Volkes“. Dort spielt er die Rolle, auf die er auch im Wahlkampf setzte: einen Außenseiter, der durch Zufall bekannt und zum Präsidenten gewählt wird. Der seine Leibwache abschafft und zur Arbeit radelt. Der rund um die Uhr gegen die korrupte und abgehobene Elite kämpft. Zwanzig Millionen Ukrainer – fast die Hälfte der Bevölkerung – sahen das Märchen auf der Mattscheibe.

Selenskyj verfügt über ein Gespür für die normalen Bürger, und zeigt das auch demonstrativ, etwa, als er nach dem Wahlsieg von der Tribüne aus namentlich auch den beiden Putzfrauen in der Wahlkampfzentrale dankte.

Poroschenko gegen Selenskyj – das war denn auch das Aufeinanderprallen zweiter unterschiedlicher Welten. Hier ein Politiker vom alten Schlag, ein Mann aus der alten Elite, sozialismus-sozialisiert, mit traditionellem Wahlkampf. Auf der anderen Seite ein geschickt durchgestylter Außenseiter als Manager neuen Typs, der vor allem auf soziale Medien setzte. Ein bisschen Trump auf ukrainisch. Inhaltlich blieb Selenskyj vage – musste er wohl auch, um für alle von links bis rechts wählbar zu bleiben. Umso heftiger war seine Kritik an den Eliten. Ständig unterstrich er, dass er auf die Menschen höre, ihren Unmut verstehe und die nötigen Konsequenzen daraus ziehen werde. Ob ihm das gelingt, ist völlig unklar. Aber die Ukrainer haben statt der Alternativlosigkeit die Alternative gewählt – und damit auch das Risiko. Die Menschen stimmten nicht so sehr für den Herausforderer als gegen das alte, korrupte System. Gegen einen Präsidenten, der die Bodenhaftung verloren hatte. Der in seiner eigenen Realität zu leben schien.

 

Eine Szene aus dem Wahlkampf symbolisierte die Abgehobenheit des Amtsinhabers wie keine zweite.

 

Bei der Diskussion der beiden vor Zehntausenden Zuschauern im Olympiastadium (man stelle sich nur für einen Augenblick Angela Merkel bei so einem offenen Schlagabtausch mit einem Medienprofi vor, der sie frontal attackiert, um die Dimension des Ereignisses zu erfassen). Stellenweise erinnerte die Debatte mehr an eine Schlammschlacht. Doch in einem Moment ging Selenskyj demonstrativ auf die Knie, für die Angehörigen der Soldaten, die in der Ostukraine gefallen sind – der Krieg dort kostete fast 13 000 Menschenleben. Der Herausforderer forderte den Amtsinhaber auf, ebenfalls auf die Knie zu gehen. Das tat Poroschenko auch – allerdings drehte er den Zehntausenden Zuschauern im Stadion die Hinterseite zu, und ging auf die Knie vor einer ukrainischen Flagge, die hinter ihm hing. Was für ein Symbol: Die Abwendung des Amtsinhabers von den Wählern, das Hineinsteigern in die Rolle des „Retters des Vaterlandes“ und das eigene Pathos.

Sehr vielen Ukrainern wurde in diesem Wahlkampf plötzlich offensichtlich: Es gibt ein Leben ohne beziehungsweise nach Poroschenko.

 

Eine Kniefall-Szene vor der Fahne wäre im Fall Merkels nicht denkbar. Dafür gibt es auch keine Notwendigkeit in einem Land wie Deutschland, das nur von freundlich gesinnten Nachbarn umgeben ist. Aber eine gewisse Ähnlichkeit im Herrschaftsstil Merkels und Poroschenkos gab es trotzdem, von der politischen Jugendsozialisation der beiden und der beschworenen Alternativlosigkeit abgesehen: Die Benutzung von Feinbildern, um innenpolitische Diskussionen zu steuern beziehungsweise zu unterdrücken. Für Poroschenko war Putin und die russische Bedrohung die dauerhafte Begründung, nicht über Oligarchenherrschaft und Korruption im eigenen Land zu sprechen.

 

Merkel und ihre Gefolgsleute haben nicht auf gleiche, aber ähnliche Weise gewissermaßen einen „inneren Russen“ geschaffen – die AfD bzw. „Rechtspopulisten“ (wobei „Linkspopulisten“ aus dem Wortschatz getilgt scheinen). Heute dient die AfD beziehungsweise der „Rechtspopulist“ als gemeinsamer Feind der etablierten Parteien, mit dessen Hilfe Einigkeit hergestellt und von strittigen Sachthemen abgelenkt werden soll. Diese Strategie funktioniert bisher. Viele Themen, allen voran Einwanderung, Islam und Sicherheit, können heute nicht mehr kritisch beleuchtend werden, weil das Totschlagargument „das könnte auch die AfD sagen“ oder „das nützt der AfD“ echte Diskussionen im Keim erstickt.

 

Die größte Überraschung der Ukraine-Wahl liegt darin, dass Poroschenkos simple Freund/Feind-Propaganda nicht mehr verfing. Die Wähler des Landes, obwohl noch nicht lange demokratieerfahren, führten einen friedlichen Machtwechsel herbei. Das mag daran liegen, dass sie sich ihre Freiheit auf dem Maidan selbst erkämpft hatten (ähnlich wie die Ostdeutschen 1989). Sie bestanden mit ihrer Wahlentscheidung eine demokratische Reifeprüfung.

Das nach Russland zweitgrößte Flächenland Europas ist zwar weit von einer lupenreinen Demokratie entfernt. Oligarchen schalten bisher ungestört (weswegen Selenskyj mit seinem Versprechen, dagegen anzugehen, so erfolgreich war). Dafür herrscht in der Ukraine Pluralismus: Verschiedene Oligarchen mit teilweise diametral entgegengesetzten Interessen dominieren unterschiedliche Medien, so dass ein echter Wettbewerb an Meinungen herrscht, und Zuschauer wie Leser sich aus unterschiedlichsten Perspektiven informieren können.

Vermutlich sind das die beiden schon ausreichenden Bedingungen eines demokratischen Machtwechsels: eine gewisse Medienvielfalt – und eine Person, die plötzlich eine wählbare Alternative verkörpert.

 

 

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