„Urängste wecken“ – darf der Staat das?

Mehrere Medien haben in Bruchstücken aus einem internen Corona-Strategiepapier („nur für den Dienstgebrauch“) des Bundesinnenministeriums zitiert. Ich bekam es jetzt zugespielt – und war schockiert. Die Szenarien, die hier durchgespielt werden, lassen einem teilweise den Atem stocken. Bis hin zu Anarchie und völligen Zusammenbruch. Ebenso schockierend sind die anvisierten Maßnahmen, von denen man sonst meist allenfalls ansatzweise im Kleingedruckten liest. Sie gehen bis hin zum staatlich animierten Wecken von Urängsten vor dem Ersticken. Das Papier liefert auch Zahlen und Antworten auf einige wichtige Fragen zu dem Virus und der Pandemie-Situation in Deutschland. Ich habe die 17 Seiten für Sie nach bestem Wissen und Gewissen analysiert.

In dem Papier wird ein Szenario für den „Worst Case, also das schlimmstmögliche Szenario, entworfen. In diesem würden sich 70% der Menschen in Deutschland mit dem Corona-Virus anstecken. Das würde unser Gesundheitssystem massiv überlasten. Die Zahlen, die dazu in dem Papier genannt werden, sind beunruhigend – vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass hinter ihnen Einzelschicksale stehen: 80% der Patienten, die medizinische Intensivbetreuung bräuchten wegen Corona, müssten die Krankenhäuser in diesem Szenario eine angemessene Behandlung notgedrungen verweigern – weil es nicht genügend Betten gäbe. In konkreten Zahlen heißt das: Bis zum 15. Mai wären 350.000 Plätze in den Intensivstationen notwendig – während es aktuell nur 14.000 gibt und diese Zahl maximal auf 24.000 Betten gesteigert werden könnte. Die Folgen in diesem Fall wären laut dem Papier verheerend: 1,2 Millionen Menschen würden in Deutschland sterben, weil die medizinischen Kapazitäten nicht ausreichen können. Aus diesem Grunde habe, so heißt es in dem vertraulichen Dokument, „die Vermeidung dieses Worst Case oberste strategische Priorität.“

Nach Ansicht der Experten des Innenministeriums sind drei Faktoren entscheidend, um den schlimmstmöglichen Fall zu vermeiden:

Um eben diesen Worst Case zu verhindern, seien primär drei Dinge nötig:

1) Kommunikation – den Menschen diesen Fall „mit allen Folgen unmissverständlich, entschlossen und transparent bewusst zu machen“. Übersetzt aus der Beamtensprache ins Klarsprech würde dies bedeuten, mit Schreckensnachrichten an die Menschen zu appellieren (hierzu unten mehr).

2) Geschlossenheit – die Vermeidung des Worst Case sei als „zentrales gesellschaftliches und politisches Ziel zu definieren“. Weiter heißt es: „Politik und Bürger müssen dabei als Einheit agieren“.

3) Nachvollziehbarkeit – die Bürger müssten die Maßnahmen nachvollziehen können.

Mein erster Gedanke beim Punkt Geschlossenheit und dem Motto „Politik und Bürger müssen als Einheit agieren“ war die Erinnerung an die alte sowjetische Parole „Partei und Volk sind eine Einheit.“ Tatsächlich könnten zumindest die ersten zwei Punkte so auch aus dem Programm der KPdSU stammen (und der dritte Punkt auch, wenn man beachtet, wie viel gelogen wurde in den kommunistischen Systemen).

Konkret heißt es unter Punkt drei: „Großflächiges Testen vermittelt den von den Ausgangsbeschränkungen betroffenen Bürgern ein aktives Krisenhandeln des Staates“. Auch das ist eine interessante Formulierung: Es geht also um das „Vermitteln“ (!) eines „aktiven Krisenhandelns“.

Weiter steht in dem vertraulichen Papier: „Die Bundesregierung muss eine umfassende Mobilisierungskampagne starten“, weil „die gegenwärtige Krise ein harter Schlag für das Vertrauen in die Institutionen“ sei. Zitat: „Dem muss entgegengewirkt werden, weil die Regierung zu einem mobilisierenden Faktor werden muss.“ Um die „gesellschaftlichen Durchhaltekräfte zu mobilisieren, ist das Verschweigen des Worst Case keine Option“.

Auch das klingt eher wie ein Trick aus der Standard-Requisiten-Kiste sozialistischer Regierungen – zuerst das Problem und das eigene Versagen wochenlang klein reden, verschweigen und die Gefahr herunterspielen – und dann mit dem Schreckensszenario „Durchhaltekräfte mobilisieren“ und Volk und Regierung vereinigen.

Dass die Gefahren durch das Virus bislang nicht ausreichend gesehen wurden, hänge damit zusammen, dass exponentielles Wachstum vom Menschen intuitiv nur schwer zu verstehen sei, heißt es in dem Papier. Das klingt durchaus logisch. Die vielen Stimmen, die die Warnungen vor Corona für maßlos überzogen halten, haben hier in meinen Augen (im Papier steht dazu nichts) ihren Schwachpunkt – im Nichtbeachten des exponentielles Wachstums, das bei den bisher bekannten Coronaviren – die besagte Skeptiker als Grundlage ihrer Einschätzung anführen – ein weitaus geringeres war als beim neuen SARS-CoV-2. Es gibt Schätzungen, wonach die Ansteckungsgeschwindigkeit und Übertragbarkeit des neuen Virus die seiner Vorgänger um das 100-1000-fache übersteigt.

Aber zurück zum Papier: Spannend ist auch die „Modellrechnung zur Strategiefindung“, mit der dort die Eckdaten prognostiziert werden. Weil die Dunkelziffer an infizierten Menschen in der Bundesrepublik und in Italien zu groß ist, ist die Aussagekraft der Zahlen in diesen beiden Ländern gering. Satt dessen wird die Sterblichkeitsrate Südkoreas herangezogen.

Dazu heißt es in dem Papier: „Dort wurden mit minimalen Ausgangsbeschränkungen, vor allem durch effizientes Testen und Isolieren, die verschiedenen Ausbrüche erfolgreich unter Kontrolle gebracht. Bei einer erheblichen Dunkelziffer von nicht gefundenen Fällen wäre dies nicht möglich gewesen. Es erging nie ein Aufruf zur Selbstisolierung bei milden Symptomen, der in der Grippesaison und bei einem Virus, das sehr lange ansteckend ist, auch nicht viel gebracht hätte. Auch wurden dort durch die systematische Kontaktsuche sehr viele Personen getestet, die überhaupt keine Symptome hatten. Daher ist in Südkorea mit einer sehr kleinen Dunkelziffer zu rechnen. Die Fallsterblichkeitsraten pro Altersgruppe können daher als gute Referenz betrachtet werden, die noch leicht hinaufzusetzen sind, da noch regelmäßig Todesfälle gemeldet werden, obwohl wenige neue Fälle hinzukommen. Diese Zahlen sind außerdem mit den Zahlen aus China außerhalb Hubei kohärent, wo noch viel intensiver getestet wurde. Für die Verteilung der Fälle auf die verschiedenen Altersgruppen und die Alterspyramide in Südkorea erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von momentan 1,1 Prozent. Angepasst an die Altersstruktur für Europa erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von 1,8 Prozent bei bester Krankenhausversorgung.“

Diese Zahlen stehen in einem großen Widerspruch zu denen, die das Robert-Koch-Institut als wichtigste, quasi-amtliche Fach-Organisation in der Krise verbreitet: Es geht aktuell von einer Sterblichkeit von 0,56 Prozent aus.

In den Unterlagen „nur für den Dienstgebrauch“ wird auch der wirtschaftliche Folgeschaden der Pandemie analysiert:

„Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnte im Sinne einer ,Kernschmelze´ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert. Dementsprechend wäre es naiv, davon auszugehen, dass ein Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um eine zweistellige Prozentzahl, etwa jenseits der 20%, eine lineare Fortschreibung der Verluste aus dem Fehlen einiger Arbeitstage bedeuten und ansonsten das Gesamtsystem nicht in Frage stellen würde. Aus diesem Grund ist die – alle anderen Überlegungen dominierende – Strategie der Eindämmung mit Vorkehrungen zu verbinden, um die ökonomischen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten.“

Hier haben die Autoren eine regelrechte Bombe versteckt: Das „in Frage Stellen des Gesamtsystems“. Das zeigt, wie außerordentlich ernst die Lage nach Einschätzung der Krisenmanager ist – ja, das alles auf dem Spiel steht in ihren Augen.

Als einzigen Ausweg sehen die Autoren “die schnellstmöglich umgesetzte, strikte Unterdrückung der Neuansteckungen, bis die Reproduktionsrate in der Nähe von 1 ist, und ein umfassendes und konsequentes System des individuellen Testens und Isolierens der identifizierten Fälle.“

Der Idealfall gleicht dem Südkorea-Szenario. Darin wird optimistisch mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von vier Prozent und der Industrie um sieben Prozent gerechnet. So ein Rückgang wäre etwa doppelt so stark wäre wie der im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008/2009.

Im Negativ-Szenario (bezeichnet als „Abgrund“), in dem ein Eindämmen der Pandemie nicht gelingt und die Ausgangsbegrenzungen bis zum Jahresende verlängert werden, bricht das Bruttoinlandsprodukt um 32 Prozent ein und die Industrie um 47 Prozent. Dies käme, so heißt es in dem Papier, „einem wirtschaftlichen Zusammenbruch gleich, dessen gesellschaftliche und politische Konsequenzen kaum vorstellbar sind.“

In dem Papier werden auch zwei weitere Szenarien skizziert: Die „Rückkehr der Krise“ durch eine zweite Welle der Corona-Pandemie und ein „langes Leiden“, mit Ausgangsbeschränkungen bis Mitte Juli.

Besonders bedrückend ist, was unter Punkt 4 („Schlussfolgerungen für Maßnahmen und offene Kommunikation“) in dem Gemeinpapier steht:

„4 a. Worst case verdeutlichen! Wir müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die Fallsterblichkeitsrate zentriert ist. Bei einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft, denken sich viele dann unbewusst und uneingestanden: «Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher». Diese Mechanismen haben in der Vergangenheit sicher zur Verharmlosung der Epidemie beigetragen.

Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.

1) Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls. Die Bilder aus Italien sind verstörend.

2) „Kinder werden kaum unter der Epidemie leiden“: Falsch. Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.

3) Folgeschäden: Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild. Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren. Eine viel häufigere Folge ist monate- und wahrscheinlich jahrelang anhaltende Müdigkeit und reduzierte Lungenkapazität, wie dies schon oft von SARS-Überlebenden berichtet wurde und auch jetzt bei COVID-19 der Fall ist, obwohl die Dauer natürlich noch nicht abgeschätzt werden kann.

Außerdem sollte auch historisch argumentiert werden, nach der mathematischen Formel:

2019 = 1919 + 1929“

Hier zeigt sich ein unglaubliches Dilemma: Wie legitim ist es, wenn der Staat gezielt Urängste weckt, also faktisch schürt? Heiligt etwas, was man als guten Zweck ausgemacht hat, wirklich alle Mittel? Wie sinnvoll ist der Rückgriff auf Methoden, die an finstere Zeiten in der Geschichte erinnern („Einigkeit von Volk und Regierung“)? Ich persönlich bin sehr, sehr skeptisch. Freue mich aber sehr auf die Diskussion mit Ihnen hier in den Kommentaren unten.


Bilder: Pixabay

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