Moskaus Lügen-ABC, Teil 2

Es war ein hartes Stück Arbeit, aber endlich ist es fertig: Meine Übersicht über die 16 größten Propaganda-Mythen über die Ukraine, gestreut von Putins-Propaganda-Netzwerken hierzulande. Hier die Fakten – zum Abspeichern und Ausdrucken.

 

Im 21. Jahrhundert, so erklärte der russische Gerneralstabschef Walerij Gerassimow freimütig, lösten sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auf. Kriege würden nicht mehr erklärt, und sie verliefen nach einem „ungewohnten Muster“. Politische Ziele seien nicht mehr allein mit konventioneller Feuerkraft zu erreichen, sondern unter anderem durch den „breit gestreuten Einsatz von Desinformationen“, so der ranghöchste Moskauer Militär.

Der Ukraine-Krieg – im Westen immer noch verharmlosend als „Ukraine-Krise“ bezeichnet – ist ein anschauliches Beispiel dafür. Mit zahlreichen Propaganda-Mythen hat Moskau massiv Stimmung gegen den Nachbarstaat gemacht.

 

 

Die Lügen verfangen auch im Westen stark – nicht zuletzt dank des einflussreichen Netzwerks von Putin-Lobbyisten, gerade auch in Deutschland. Viele Gutgläubige gehen auch deshalb dieser Desinformation über die Ukraine auf den Leim.

Hier die 16 wichtigsten Propaganda-Mythen über das nach Russland größte Flächenland Europas, das fast so viele Einwohner hat wie Spanien – und die Fakten dazu:

 

Propaganda-Mythos 1: „Die Krim war schon immer Russisch“

Die Krim wurde 1783 nach Eroberung durch Katharina die Große per Manifest vom 8. April vom Russischen Imperium annektiert. Seit 1443 gab es dort das Khanat der Krimtataren, ab 1475 war sie ein Vasallenstaat des Osmanischen Reichs geworden.

Die russische Zentralregierung unter Kaiserin Katharina siedelte gezielt Russen auf der Krim an, viele Krimtataren flohen in das Gebiet der heutigen Türkei; in sowjetischer Zeit wurde diese Russifizierungspolitik verstärkt. Hinzu kam, dass Stalin 1944 nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 180.000 und 230.000 Krimtataren nach Zentralasien (überwiegend ins heutige Usbekistan) deportieren ließ, unter unmenschlichen Bedingungen, in Viehwaggons, wobei um die 100.000 Menschen starben.

Die Krim war seit 1921 als Autonome Republik Teil der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), aus der die heutige Russische Föderation (RF) hervorging; diesen Status verlor die Krim im Juni 1945. Nach 1946 war die Krim zunächst noch 8 Jahre im Status eines „Gebietes“ (oblast) Teil der RSFSR, bis 1954 Parteichef Chruschtschow die Halbinsel der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion überantwortete.

Kritische russische Historiker machen geltend, die Krim habe damit nicht mehr als 34 Jahre zur heutigen Russischen Föderation gehört, ganze 60 Jahre aber zur Ukraine (650 Jahre zu Byzanz, 342 Jahre zum Krim-Khanat und 202 Jahre zu den Mongolen).

Zur Zarenzeit könne die reale Zugehörigkeit der Krim nicht eindeutig der Ukraine oder Russland zugeordnet werden, da zu dieser Zeit die Ukraine keine politische Eigenständigkeit besaß.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion stimmten auf der Krim in einem Referendum am 1. Dezember 1991 54,19 Prozent der Wähler für eine Unabhängigkeit der Ukraine – also gegen einen Verbleib in der Sowjetunion bzw. bei Moskau.

 

Propaganda-Mythos 2: „Auf der Krim drohte 2014 ein Völkermord an Russen“

„Russia Today“ und der russische „Erste Kanal“ berichteten Anfang 2014 von einer akuten Bedrohung der Krim-Bürger durch Ultranationalisten und bewaffnete Extremisten aus Kiew. Das russische Fernsehen, auf der Krim das Hauptinformationsmittel, schürte Ängste mit Berichten, solche Kräfte seien bereits auf dem Territorium eingesickert.

Immer wieder war von einem Völkermord gegen Russen die Rede. Ebenso wurde 2014 der Eindruck erweckt, durch die geplante Änderung des Sprachengesetzes würde Russisch auf der Krim bald verboten sein – dabei trat das entsprechende Gesetz nie in Kraft.

„Die Bewohner der Krim waren zu keinem Zeitpunkt in der Gefahr, Opfer verbrecherischer Gewaltmaßnahmen von Seiten der Kiewer Zentralregierung oder revolutionärer paramilitärischer gesellschaftlicher Verbände zu werden“, schreibt der Rechtswissenschaftler Otto Luchterhand von der Universität Hamburg.

 Pro-russische Proteste auf der Krim im März 2014

 

Nach der völkerrechtswidrigen Okkupation durch Russland dagegen verurteilte der Menschenrechtausschuss der Vereinten Nationen „diskriminierende Übergriffe, Maßnahmen und Praktiken der russischen Besatzungsbehörden gegenüber den Einwohnern“ der Krim.

Insbesondere die Krimtartaren und andere Minderheiten wurden ungerecht behandelt, ihren dortigen eigenständigen TV-Sender und ihr dortiges Parlament, den Medschlis, wurden aufgelöst, seine Repräsentanten drangsaliert und oder außer Landes getrieben.

 

 

Propaganda-Mythos 3: „Russland hat auf der Krim das gleiche gemacht wie der Westen im Kosovo“

Im Kosovo drohte ein Völkermord.

„Der Unterschied ist der: Damals waren die Dinge evident und manifest. Slobodan Milošević hatte längst bewiesen, dass er willens war, massenhaft, zu Tausenden Männer zu massakrieren. Wir kannten den Völkermord von Srebrenica. Auf der Krim ist nichts, aber auch gar nichts Ähnliches in Sicht“, befand schon im März 2014 der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer von den Grünen im Deutschlandfunk.

Für Situationen wie die im Kosovo gebe es eine Lücke im Völkerrecht, so Volmer, die auf eine entsprechende Blockade Stalins bei den Verhandlungen für die UN-Charta zurückgehe. Russlands „Vorgehen auf der Krim hat, materiell-rechtlich gesehen, mit dem Fall ‚Kosovo‘ so gut wie keine Gemeinsamkeit. Die Fälle ,Kosovo‘ und ,Krim‘ unterscheiden sich vielmehr gerade in wesentlichen Punkten voneinander“, schreibt der Professor Otto Luchterhand.

Seine umfangreiche Analyse zu diesem Thema kann hier nachgelesen werden.

 

Propaganda-Mythos 4: „Die russischen Truppen waren legal auf der Krim“

Tatsächlich bestand ein Vertrag zwischen Moskau und Kiew über die Stationierung der russischen Truppen auf der Krim. Legal war deren Aufenthalt aber nur, solange sie sich an den Vertrag hielten und die vertraglich vereinbarte Miete dafür bezahlt wurde.

Ein strikter Verstoß gegen diesen Vertrag und insbesondere auch das Gewaltverbot der UN-Charta war es aber, was diese Truppen im Februar 2014 taten – dass sie etwa wichtige Kommunikations- und Infrastruktureinrichtungen besetzten und ukrainische Häfen und Militäreinrichtungen blockierten.

Laut Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1974 liegt auch dann eine Aggression vor, wenn Streitkräfte eines Staates, die sich mit Zustimmung eines anderen Staates auf dessen Hoheitsgebiet aufhalten, sich anders als im Stationierungsvertrag geregelt verhalten.

Da das stationierungswidrige Verhalten der russischen Truppen nicht nur bedeutend gewesen sei, „sondern einer militärischen Invasion und Besetzung der Halbinsel Krim gleichkommt, kann man durchaus von einem ,bewaffneten Angriff‘ sprechen“, stellte etwa der Völkerrechtler Stefan Talmon in der „Zeit“ fest.

2015 erklärte Wladimir Putin in dem Film „Die Krim. Weg in die Heimat“ stolz, dass er seinem Verteidigungsministerium den Auftrag gegeben habe, „unter dem Vorwand einer Verstärkung der Bewachung unserer Militärobjekte auf der Krim Sondereinheiten der GRU dorthin zu schicken und Marine-Infanterie sowie Fallschirmjäger“, damit diese das ukrainische Militär auf der Krim blockieren und entwaffnen.

Damit bestätigte Putin explizit, was viele seiner Anhänger im Westen bis heute vehement bestreiten – dass es sich nämlich um eine Invasion der Krim und somit einen Bruch des Völkerrechts handelte.

 

Propaganda-Mythos 5: „Chruschtschow hat die Krim aus einer Wodka-Laune heraus der Ukraine geschenkt“

Entgegen der weit verbreiteten Ansicht war Generalsekretär Nikita Chruschtschow kein Ukrainer. Er kam 1894 in Kalinowka im Gebiet Kursk auf die Welt, als Sohn einer westrussischen Bauernfamilie, die 1908 nach Donezk in die Ukraine übersiedelte. Er machte seine Karriere später im Parteiapparat in der Ukraine und dann in Moskau.

Die These, er habe die Krim einfach an die Ukraine verschenkt, gilt bei kritischen Historikern und Politikwissenschaftlern, darunter auch seinem Sohn Sergej, als Legende.
Zum einen war Chruschtschow 1954 noch gar nicht uneingeschränkter Herrscher der Sowjetunion, sondern in einem Triumvirat.  So war es der  Georgi Malenkow, der die Überschreibung der Krim an die Ukraine als Ministerpräsident verantwortete (formelles Staatsoberhaut, aber unbedeutend, war Woroschilow). 

Tatsächlicher Hintergrund der Übertragung war keine Wodka-Laune, sondern dass die Halbinsel keine Landverbindung zu Russland hat und nur von der Ukraine aus über eine Landverbindung versorgt werden kann, insbesondere auch mit Strom und Wasser.

 

Der ehemalige sowjetische Premier Nikita Chruschtschow
 

Die Krim war massiv auf diese Versorgung und Subventionen aus der Ukraine bzw. der ukrainischen Sowjetrepublik angewiesen. Da diese heute fehlt, kommt es zu massiven Versorgungsproblemen; deshalb muss Moskau nun eine Brücke zur Krim bauen, deren Errichtung der Kreml über all die Jahre zuvor nicht für nötig erachtet hat.

Die Übertragung von Territorien innerhalb der Sowjetunion war gang und gäbe; sie wurde mit dem Zerfall der UdSSR als verbindlich anerkannt. Wäre das nicht geschehen, würde die gesamte Staatenordnung und Grenzziehung nach der Wende hinfällig und es gäbe unzählige offene Grenzfragen, wie russische Historiker wie Andrej Subow warnten.

 

Als Beispiel nennt er die Karelo-Finnische SSR, die 1956 in die RSFSR eingegliedert wurde. Ohne diese Eingliederung wäre sie 1991 ein eigenständiger Staat geworden, wie die Ukraine oder die baltischen Staaten.

 

Propaganda-Mythos 6: „Die Krim wurde durch das Referendum legal Teil Russlands“

Der Beschluss, das Referendum durchzuführen, erfolgte nach Beginn der Militäraktion, als das Regionalparlament der Krim von russischen Sondereinsatztruppen besetzt war, und russlandkritische Abgeordnete keinen Zugang mehr erhielten. Volksvertreter berichteten, das Parlament sei gar nicht beschlussfähig gewesen, die Zahl der anwesenden Abgeordneten gefälscht.

Das Referendum war darüber hinaus verfassungswidrig, da ja ukrainisches Gesetz galt. Es fand unter massiver Präsenz von ausländischen Militärs statt, die dort nichts zu suchen hatten. Vorab wurde die Übertragung von ukrainischen Sendern via Kabel und Antenne unterbunden; stattdessen wurden russische Programme gezeigt, die vor Anschlägen und „ethnischen Säuberungen“ durch radikale Westukrainer warnten.

Auf dem Stimmzettel hatten die Wähler nur die Wahl zwischen dem Anschluss an Russland oder eine Rückkehr zur Verfassung von 1992 – die Beibehaltung des Status quo stand nicht zur Wahl. Umschläge für die Stimmzettel waren nicht vorgesehen, und die Wahlurnen durchsichtig, so dass von einer geheimen Abstimmung (wie vorgeschrieben) nicht die Rede sein konnte.

Überdies gab es zahlreiche Indizien für Fälschungen: Laut einem Zwischenergebnis müssten in Sewastopol 474.137 Menschen wählen gegangen sein; die Stadt hat aber nur rund 385.000 Einwohner, wenn Kinder mitgezählt werden. Das offizielle Wahlergebnis betrug 96,77 Prozent für den Anschluss bei 83,11 Prozent Wahlbeteiligung.

Damit hätten 80 Prozent der Stimmberechtigten auf der Halbinsel für einen „Anschluss“ gestimmt – obwohl der Anteil der Russen nur bei rund 58 Prozent liegt. Die Krim-Tataren, die das Referendum boykottierten, und die Ukrainer hätten somit mindestens zu 60 Prozent für einen solchen „Anschluss“ an das Nachbarland stimmen müssen.

Rechnerisch gut möglich, aber alles andere als vorstellbar. Vor der russischen Besatzung hatte nicht einmal einen Monat zuvor laut einer Umfrage nur 41 Prozent der Krim-Bewohner sich dafür ausgesprochen, der Russischen Föderation beizutreten. Die UNO erklärte das Referendum für nicht bindend und ungültig.

 

 

Propaganda-Mythos 7: „Die ukrainische Regierung hat Russland um Hilfe gebeten“

Im März 2014 präsentierte der inzwischen verstorbene russische UN-Botschafter Witali Tschurkin auf einer Sondersitzung einen angeblichen Brief des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, der kurz zuvor nach Russland geflohen war.

Tschurkin hielt das Schreiben in die Luft und sagte, Janukowytsch fordere darin von Russland einen Militärschlag gegen sein Land und bitte Putin, für Recht und Ordnung in der Ukraine zu sorgen, da diese in Chaos und Anarchie versinke. Die Ukraine leide unter der Gewalt, die vom Westen ausgehe, „die Leute werden aus politischen und sprachlichen Gründen verfolgt“, Putin solle mit Hilfe der russischen Streitkräfte „das Gesetz, den Frieden, die Ordnung und Stabilität wiederherstellen“ und die Bürger der Ukraine schützen.

 Soldaten der russischen Separatisten auf der Krim

 

Am 16. März 2017 erklärte Putins Sprecher Dmitri Peskow, so einen Brief hätte es nie gegeben. Zuvor hatte der ukrainische Generalstaatsanwalt Juri Luzenko einen Brief seines russischen Kollegen veröffentlicht, in dem auch dieser die Existenz eines solchen Schreibens bestritt.

Janukowytsch selbst und das russische Außenministerium erklärten, es habe sich nicht um einen Brief, sondern um eine „Erklärung“ gehandelt. Wie auch immer – selbst wenn es die Erklärung gegeben haben sollte – sie war vom 1. März 2017 – damit erst nach Russlands Intervention auf der Krim abgegeben worden.

 

Propaganda-Mythos 8: „Russland habe sich an seine Verträge gehalten“

Mit seinem Angriff auf die Ukraine verletzte Moskau nicht nur das Völkerrecht, sondern auch weitere andere Abkommen. Etwa die KSZE-Schlussakte, in der es sich zur Achtung der Grenzen in Europa und der friedlichen Lösung von Streitfällen verpflichtet hatte.

Auch im Freundschaftsvertrag mit der Ukraine von 1997 sicherte Moskau dem Nachbarn die Unverletzbarkeit seiner Grenzen zu. Im Budapester Memorandum von 1994 tritt Russland gar neben den USA und Großbritannien als Garant für die Integrität der Ukraine und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen auf – im Gegenzug verzichtete die Ukraine ihr Atombomben-Arsenal zugunsten Russlands.

Die Verletzung dieses Abkommens wird wohl dazu führen, dass Staaten in vergleichbarer Situation nicht mehr ohne weiteres auf ihre Atomwaffen verzichten werden. Hätte der junge ukrainische Staat damals sein Nuklearpotential behalten, wäre der russische Angriff kaum möglich gewesen.

Die viel diskutierten Sanktionen des Westens sind nur das Minimum dessen gewesen, was Washington und London der Ukraine an Unterstützung laut Budapester Memorandum schuldig waren. Die Alternativen dazu waren Waffenlieferungen oder eine militärische Intervention.

 

Propaganda-Mythos 9: „Die Ukraine ist eigentlich ein Teil Russlands“

Die Ukraine geht genauso wie Russland aus der Kiewer Rus hervor, die ihren Ursprung, wie der Name bereits sagt, in Kiew hat. Es war insbesondere der Einfall und das Joch der mongolischen Goldenen Horde, das zu einer Spaltung der früheren Kiewer Rus führte.

Während das heutige Moskau fast 250 Jahre unter starkem mongolischem Einfluss stand, waren große Teile der Ukraine nur sehr viel kürzer oder gar nicht unter Mongolenherrschaft. Kritische russische Historiker halten den Einfluss der Mongolen für sehr prägend für den Teil der alten Kiewer Rus, den wir heute als „Russland“ bezeichnen – mit ganz anderen Macht-Strukturen und insbesondere der Begründung von Macht durch Gewalt statt durch Regeln und Absprachen.

 

Feierlichkeiten zum 1024-jährigem Bestehen der Kiewer Rus 2014 in Kiew

In weiten Teilen der Ukraine waren dagegen die westliche, nicht zuletzt katholisch begründeten Einflüsse, insbesondere durch Polen-Litauen, prägend; zudem hatte sich dort das Magdeburger Stadtrecht ausgebreitet, während die Leibeigenschaft in Russland erst 1861 abgeschafft wurde.

Die Kosaken in der Ukraine wählten ihre Anführer selbst, während Putins dafür sorgte, dass die Gouverneure der innerrussischen Republiken wieder durch den Präsidenten eingesetzt und nicht mehr wie unter Jelzin frei gewählt wurden.

Anders als viele anderen Nationen in Europa hatte die Ukraine zu der Zeit, als im 19. und 20. Jahrhundert Nationalstaaten entstanden, wenig Fortune und blieb deshalb lange Teil des russischen Imperiums bzw. der Sowjetunion.

 

Propaganda-Mythos 10: „Die Ukraine ist ein gespaltenes Land“

Die Westukraine gehörte bis auf die Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Unabhängigkeit 1991 nie zu Moskau bzw. Sankt Petersburg, war als Teil von Österreich-Ungarn westlich geprägt; die Ostgebiete wie etwa Donezk, Charkiw und Dnipro dagegen haben engere Beziehungen zum Nachbarn Russland.

Dort sprechen die meisten russisch oder „surschik“, eine Mischung aus Ukrainisch und Russisch. Bei allen Unterschieden zwischen West- und Ostukrainern – sie sind wohl kaum größer als die zwischen Oberbayern und Ostfriesen –, wäre es absurd, ihnen abzusprechen, dass sie zu einer gemeinsamen Nation gehören.

Teilweise wurden die regionalen Differenzen absichtlich hochgepeitscht zu politischen Zielen – etwa im Wahlkampf durch den lange als moskaunah geltenden Präsidenten Janukowytsch. Interessanterweise hat ausgerechnet Putins Aggression zu einem massiven Zusammenrücken aller Teile der Ukraine und zu einer massiven Verstärkung der ukrainischen Nationenbildung geführt.

Beim Referendum am 1. Dezember 1991 stimmte auch in der Ostukraine eine überwiegende Mehrheit der Wähler für eine Unabhängigkeit der Ukraine – also gegen einen Verbleib in der Sowjetunion bzw. bei Moskau. Auch in den jetzt von Moskau teilweise annektierten Gebieten (Donezk: 76,73 Prozent, Luhansk 80,65). Außerhalb der Krim lag die Zustimmung zur ukrainischen Unabhängigkeit in keinem Gebiet unter 75 Prozent.

 

Propaganda-Mythos 11: „In der Ostukraine herrscht ein Bürgerkrieg, dort kämpfen ,pro-russische Separatisten’“

Wladimir Putin hat selbst auf seiner Jahres-„Pressekonferenz“ im Kreml im Dezember 2015 zugegeben, dass russische Streitkräfte in der Ostukraine kämpfen; die Belege dafür waren ohnehin sehr zahlreich, angefangen mit Aufnahmen von russischen Truppen bis hin zur Rückführung von Leichen russischer Soldaten über die Staatsgrenze zurück in ihre Heimat.

Dass die angeblichen „Separatisten“ diese Mengen an modernen Waffen, in deren Besitz sie sind, in Geschäften gekauft oder in Armeelagern gefunden hätten, wie die russische Propaganda behauptet, ist eine Lüge. Die wichtigsten Akteure zu Beginn des Konfliktes waren russische Staatsbürger, teilweise sogar frühere Angestellte des „orthodoxen Oligarchen“ Konstantin Malofejew, der einem Bericht der kritischen Moskauer Zeitung „Nowaja gaseta“ zufolge das eigentliche Drehbuch für den Konflikt geschrieben hat.

 Ukrainische Soldaten bereiten sich auf der Krim auf einen russischen Angriff vor

 

Die Art der Kriegsführung – etwa die Einkesselung einer regulären ukrainischen Armee in Debalzewe – sowie die Ausrüstung der vermeintlichen „Aufständischen“ weisen zweifellos auf eine Planung und Durchführung des bewaffneten Konfliktes von Russland aus hin.

Würde Moskau die Grenze schließen, wäre der Krieg in sehr kurzer Zeit beendet, weil den so genannten „Separatisten“ Waffen, Nachschub und Männer ausgehen würden. Von ihrem finanziellen Unterhalt einmal abgesehen, der in rechtswidriger Weise vom Instanzen bestritten wird, die der Kreml kontrolliert.

Die Infrastruktur, Versorgung und Verwaltung der besetzten Gebiete wurde und wird auf Russland ausgerichtet bzw. in die dortigen Systeme integriert.

 

Propaganda-Mythos 12: „Den Machtwechsel in der Ukraine hat der Westen initiiert“

Nachdem der ukrainische Präsident Janukowytsch im Herbst 2013 die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU auf Eis legte, kam es in Kiew ab dem 21. November 2013 zu spontanen Protesten.

Nach monatelangen Demonstrationen trotz des kalten Winters auf dem so genannten „Euromaidan“ kam es am 18. Februar 2014 zu einer Eskalation: Die inzwischen aufgelöste Spezialeinheit der Polizei, Berkut, ging plötzlich mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vor (nachdem Janukowytsch dies zuvor wochenlang eben nicht befohlen hatte) und erschoss wahllos einzelne Demonstranten, wobei 80 Menschen ums Leben kamen.

Daraufhin wurde die Vermittlung europäischer Vertreter angenommen und mit Janukowytsch ein Übereinkommen unterzeichnet, bei dem auch ein Vertreter der Russischen Föderation, Wladimir Lukin, anwesend war. Die Proteste waren ausgesprochen heterogen und setzten sich aus unzähligen Gruppen und Strömungen zusammen. Fachleute sprechen von einer klassischen Grasswurzelbewegung, die von unten nach oben und nicht umgekehrt gewachsen ist.

Dass die USA auf die Entwicklung in der Ukraine Einfluss genommen haben – aber weitaus weniger aktiv und mit weitaus weniger Geld als Moskau, wird von Seiten der USA nicht verheimlicht. Washington unterstützte regimekritische Organisationen mit Geld und Knowhow, übte Druck auf die Regierung aus, die Proteste nicht mit Gewalt niederzuschlagen, unterstützte die „Revolutionäre“ soweit es ging.

Es war in erster Linie der Ärger über die korrupte Regierung und die wirtschaftliche Situation, die die Menschen auf die Straßen trieb. Doch Putin und seine Männer betrachten diese Demonstranten nicht als Bürger eines anderen Landes, sondern sehen die Ukraine und alle ihre Bürger als ihr alleiniges Einflussgebiet.

Aus ihrer Einmischung machten sie keinen Hehl; unter anderem forderten sie Präsident Janukowytsch auf, mit Gewalt gegen die Proteste vorzugehen – etwa Putinberater Sergei Glasjew. Unbestätigten westlichen Berichten zufolge sollen vor der orangen Revolution 2004 über diverse Kanäle 65 Millionen US-Dollar zur Unterstützung der Revolution aus Amerika geflossen sein.

Moskaus Propaganda führt diese – unbestätigte – Summe als Beleg dafür an, dass die USA die orange Revolution finanziert und organisiert habe.

Sollten die 65 Millionen wirklich geflossen sein, wären sie nur ein Klacks im Vergleich zu den Mitteln, die aus Moskau kamen: Allein die als „Wahlgeschenk“ für Janukowytschs kurz zuvor beschlossenen Energiepreis-Senkungen durch den Kreml hatten einen Gegenwert von rund 800 Millionen US-Dollar.

 

 

Propaganda-Mythos 13: „Der Maidan war ein Putsch“

Tatsächlich hatte der demokratisch gewählte Präsident Janukowytsch wegen Korruption und Willkür das Vertrauen der Bevölkerung komplett verloren; nachdem er gegen zwar wehrhafte aber noch friedliche Demonstranten unverhältnismäßige Gewalt hatte einsetzen lassen, wechselten auch viele seiner früheren Vertrauten die Seiten.

Janukowytsch war isoliert und musste damit rechnen, für Machtmissbrauch und auch für die Toten auf dem Maidan zur Verantwortung gezogen zu werden. Später berichtete der ukrainische Geheimdienst, ein Putin-Berater habe den Befehl über die Berkut-Spezialeinheit übernommen, die dann die Schüsse auf die Demonstranten eröffnete.

 

 

Friedlicher Protest auf dem Maidan

Am 21. Februar wurden die Wachen von seinem Präsidentensitz in Kiew abgezogen; am 22. Februar besetzten Demonstranten diesen und seine Privatresidenz. Janukowytsch floh nach Russland. Die ukrainische Verfassung sieht keine Regelung vor für den Fall, dass ein Präsident aus dem Land flieht und seine Amtsgeschäfte nicht mehr ausführt.

Das demokratisch gewählte Parlament, das zuvor mehrheitlich Janukowytsch unterstützt hatte, erklärte den flüchtigen Präsidenten für abgesetzt, ernannte den Parlamentspräsidenten zum amtierenden Staatsoberhaupt und setzte Neuwahlen des Präsidenten innerhalb kurzer Zeit an.

Kritiker argumentieren, dieses Vorgehen habe nicht exakt der Verfassung entsprochen. Dies trifft zu – allerdings gab es eben in der Verfassung keine konkrete Bestimmung für diesen Fall. Das durch eine breite Mehrheit im demokratisch legitimierten Parlament verabschiedete Prozedere entsprach aber gleichwohl dem Geist der Verfassung – insbesondere auch die Neuwahlen.

Der Vorwurf eines „Putsches“ ist deshalb absurd.

Ein Putsch ist laut Duden ein „von einer kleineren Gruppe [von Militärs] durchgeführter Umsturz[versuch] zur Übernahme der Staatsgewalt“. Weder ein Staatsstreich (laut Duden „gewaltsamer Umsturz durch etablierte Träger hoher staatlicher Funktionen“) noch ein Umsturz (gewaltsame grundlegende Änderung der bisherigen politischen und öffentlichen Ordnung durch revolutionäre Beseitigung der bestehenden Regierungsform) hatte sich ereignet.

Absurd ist die von Putin persönlich verwendete Herabsetzung der neuen Regierung in Kiew als „Junta“ – diese Bezeichnung steht auch im Russischen für eine Militärjunta, also eine Gruppe von Militärs, die durch einen Militärputsch an die Macht gekommen ist und mit Terror-Methoden herrscht.

 

Propaganda-Mythos 14: „Die Ukraine ist faschistisch“

Moskaus Medien zeichnen bis heute ein Bild, ein Haufen rechter und faschistischer Chaoten aus der Westukraine habe einen bewaffneten Putsch verübt. Dabei verwenden die gesteuerten Medien abwegige Irrbilder – von angeblichen Konzentrationslagern für Russen in der Ostukraine bis hin zu antisemitischen Exzessen gegen einen Rabbi auf der Krim (die in Wirklichkeit erst nach der Besetzung durch Russland stattfanden).

Nach dem Angriff durch Russland 2013 war die ukrainische Armee heillos überfordert, weil sie auch unter Janukowytsch in den Ostgebieten gezielt ausgedünnt worden war, und in der Not zog die ukrainische Regierung auch rechte Kampftruppen zur Verteidigung des Landes hinzu.

Ob der Aufstand gegen die DDR-Führung im Juni 1953, der Prager Frühling oder der Ungarn-Aufstand, für Moskau waren alle Aufstände gegen das eigene Gewaltregime stets „faschistische Umsturzversuche“. Auch die Berliner Mauer war im Moskauer Propaganda-Sprech ein „antifaschistischer Schutzwall“.

Diese Tradition, jeden Widerstand gegen Moskau als „faschistisch“ darzustellen, dessen sind sich bei uns viele nicht im Klaren.

Wie absurd dieser Vorwurf aber gegenüber der Ukraine ist, zeigt das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2014: beide ukrainische Kandidaten aus dem rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Lager kamen dort zusammen nur auf knapp über zwei Prozent – nicht zu vergleichen etwa mit Le Pens Ergebnissen in Frankreich oder denen der AfD bei bisherigen Landtagswahlen in Deutschland.

Der Historiker Timothy Snyder bringt die Widersprüche der russischen Propaganda am Beispiel Ukraine auf den Punkt:

„Einerseits hört man, es gebe keinen ukrainischen Staat, andererseits hört man aber auch, der ukrainische Staat ist sehr repressiv. Man hört, es gebe gar keine ukrainische Nation, aber auch, die Ukrainer seien alle Nationalisten. Man hört, es gibt keine ukrainische Sprache, aber man hört auch, Russen würden gezwungen, ukrainisch zu sprechen. Man hört, Russland führe diesen Krieg, um die Welt vor dem Faschismus zu retten, aber man hört auch, dass Faschismus gar keine so schlechte Sache ist.“

 

Propaganda-Mythos 15: „In der Ukraine ist es unsicher“

Obwohl es auf der einen Seite tatsächlich einen Krieg in der Ostukraine gibt – obwohl die meisten Medien vorziehen, von „Krise“ zu sprechen, und dort auch noch fast täglich Menschen sterben: Das betroffene Gebiet ist verglichen mit dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine, ja selbst zur gesamten Ostukraine verhältnismäßig klein.

Wenige Kilometer hinter der Demarkationslinie, an der es immer noch fast täglich zu Schusswechseln und zu Toten kommt, sind nur die indirekten Folgen des Krieges zu spüren – etwa durch die rund eine Million Binnenflüchtlinge. Wenn sich Touristen oder Geschäftsleute heute teilweise Sorgen machen um ihre Sicherheit bei Besuchen oder Investments in der Ukraine, sind diese unbegründet, solange sie nicht planen, sich der Demarkationslinie zu nähern.

Im Gegenteil: Während etwa in Russland nach dem Eingeständnis des heutigen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedjew „Rechtsnihilismus“ herrscht und sich Unternehmer nicht auf ihre Rechtssicherheit berufen können, gibt es in der Ukraine Ansätze von Rechtsstaatlichkeit, die durch Reformen ausgebaut werden sollen.

 

Propaganda-Mythos 16: „Die Ukraine gehört nicht zu Europa“

Mit ihrem massiven Einsatz für eine Westintegration, bei der über eine Million Menschen auf die Straße gingen, haben die Ukrainer bewiesen, dass sie bereit sind, trotz Gefahr um Leib und Leben für unsere westlichen Werte einzustehen – was man derzeit nicht von allen Europäern behaupten kann, für die diese Werte eigentlich selbstverständlich sein sollten.

 

 

Pro-europäischer Protest in Kiew

Die Westukraine war immer Teil des westlichen Europa, bis auf eine historisch gesehen kurze Episode seit dem Zweiten Weltkrieg (1945–1991), als sie zur Sowjetunion gehörte – aber trotz massiver Sowjetisierungsversuche in die Sowjetunion mental nicht vollständig integriert werden konnte.

Die Zentralukraine verfügt über eine lange europäische Tradition. In der Ostukraine war diese gemeinsame Geschichte zwar kürzer – aber die Reaktion auf Russlands Aggression zeigt deutlich, dass sich auch dort eine Mehrheit den westlichen Ideen verbunden fühlt.

Ebenso wie in der ganzen Ukraine, wo bei den vergangenen freien Wahlen die proeuropäischen Parteien eindeutig die Mehrheit erringen konnten.

 

➨ Mehr zum Thema: Die 10 Propagandamythen des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

 

Die wichtigsten Angaben im Text wurden von Markus Wolf geprüft. Er ist promovierter Slawist und Osteuropahistoriker.

 

 

 

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