Die Legenden um die Nawalnij-Vergiftung Warum Merkel Putins beste Frau ist

„Das schadet doch Putin nur“ – diese These zur Vergiftung von Alexej Nawalnij ist hier in Deutschland immer wieder zu hören. Auch hier in den Kommentaren auf meiner Seite. Sie offenbart ein völliges Verkennen der Machtverhältnisse in Russland und der Person Putins. Und ein Anlegen unserer eigenen, westlichen Maßstäbe an die Verhältnisse im größten Flächenland der Erde. Dabei sind die überhaupt nicht vergleichbar mit unseren. Wenn Putin die Morde an seinen Gegnern wirklich schaden würden, dann wäre nach all den vielen Mordanschlägen der Schaden inzwischen so groß, dass er kaum noch im Amt sitzen könnte. Allein dieser Logik-Check entlarvt den Denkfehler.
Die Realität sieht umgekehrt aus: Herrschaft beruht in Russland, nicht erst seit Putin, sondern seit Jahrhunderten mit wenigen Ausnahmen fast ausschließlich auf Dominanz und Gewalt. Ob Iwan der Schreckliche, Stalin, Breschnew oder Putin: Die meisten Herrscher im Kreml waren darauf angewiesen, dass die Menschen Angst vor ihnen hatten. Dass die Untertanen wussten: Wer gegen die Macht aufbegehrt, dem ergeht es nicht gut. Angst ist das oberste Herrschaftsprinzip. Und zwar nicht nur in Russland, sondern auch, wenn auch auf andere Weise, in Deutschland unter Merkel: Vor „Rechts“, vor Atomkraft, vor Klimawandel, vor Corona. Aber das soll Thema für einen eigenen Beitrag sein.

Bei seinen Anhängern und in den Sicherheitsorganen wird Putin für Morde an seinen Feinden zum Teil regelrecht gefeiert, zumindest aber geachtet (ob er dahinter steckt oder nicht, lasse ich dabei außen vor). Der Kreml-Chef kommt damit als „straffer Führer“ und „toller Hecht“ rüber, der es seinen Gegnern zeigt. Für uns im Westen schwer vorstellbar. Aber auch die ganzen Bilder, bei denen Putin mit nacktem Oberkörper, als Tiger-Bändiger oder mit der Kalaschnikow auftritt, sind Teil einer Inszenierung. Bei uns gilt das als lächerlich. Aber nur, weil wir es nicht kapieren. Es sind Machtrituale. Durchaus kluge aus Putins Sicht. Andere Länder, andere Sitten. Michael Gorbatschow wird in Russland noch heute als Schwächling verlacht und verachtet, Boris Jelzin ebenso.

Was mich aktuell im Fall Nawalnij, den ich persönlich kenne und durchaus kritisch sehe, besonders wundert: Wie viele Menschen und gerade Kollegen plötzlich Russland-Fachleute sind und sich zutrauen, eine kompetente Einschätzung abzugeben. Ich würde mich zum Beispiel über die USA, die Türkei oder andere Länder, die ich kaum kenne, nur extrem zurückhaltend äußern. Bei Russland und Putin fehlt sehr vielen leider diese Zurückhaltung völlig. Obwohl sie nicht die Landessprache kennen, Medien nicht im Original kennen und zu einem großen Teil gar nicht oder nur kurz im Lande waren. Mangelnde Kompetenz kompensieren sie mit Lautstärke und Überzeugung. Auch das führt zu einer massiven Verzerrung in der Wahrnehmung.

Warum gerade jetzt, fragen Putins Verteidiger mit Blick auf den Mordversuch an Nawalnij. Jetzt, weil Putin seit seinen Dresdner Tagen eine massive Angst vor Massenprotesten auf der Straße hat. Die hat er mehrfach beschrieben. Heute sind in Weißrussland Hunderttausende auf der Straße. Die Strahlwirkung dieser Proteste auf Russland ist enorm. Im Fernen Osten demonstrieren ebenfalls Zehn-, wenn nicht Hunderttausende seit Wochen. Mit Spruchbändern wie „Putin ist ein Dieb“ oder „Putin ins Gefängnis“. Die Wirtschaft ist durch Corona zusammengebrochen. Die Menschen haben teilweise nicht mal mehr das Geld, Essen zu kaufen. Die Lage ist dramatisch. Die Unzufriedenheit steigt gewaltig. Putins Beliebtheitwerte sind in sich zusammengebrochen und so gering wie noch nie. Gleichzeitig enthüllt Nawalnij im Wochentakt Korruption und Bereicherung von Putins Eliten.

Wie naiv muss man sein, um hier ein Motiv abzustreiten? Wie stark muss der Wunsch nach Verdrängung sein?

Weiter heißt es von Putins Verteidigern vorwurfsvoll, es müsste eine Unschuldsvermutung gelten. Das ist Unsinn. Die gilt nur im Strafverfahren, nicht bei Politikern. Seit 20 Jahren kommt ein Gegner Putins nach dem anderen um. Die Liste hier aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Viele Opfer kannte ich persönlich. Boris Nemzow sagte zu mir Monate vor seiner Ermordung: „Der wird mich umbringen, ich weiß auch warum.“ Weil er öffentlich gesagt hatte, Putin sei „fucked“: Im Russischen eine der schlimmsten Beleidigungen, die vor allem im Mafia-Mileu niemand auf sich sitzen lassen kann. Zur Ermordung Nemzows befragt, sagte Putin später öffentlich: „Er hat Grenzen zum Persönlichen überschritten: Dass man ihn deswegen erschießen musste, ist kein Fakt“. Kein Wort des Beileids oder des Mitgefühls. Noch Fragen? Die Ermordung von politischen Gegnern ist seit mehr als 100 Jahren Markenzeichen des KGB, aus dem Putin stammt. Und zu dessen Tradition er sich bei jeder Gelegenheit stolz bekennt und den er regelmäßig lobt. Stellen Sie sich mal vor, ein deutscher Politiker würde sich stolz zur Gestapo bekennen und diese loben! Schon Stalin sagte einst: „Wenn der Mensch weg ist, ist auch das Problem weg!“

Nach dem Mordversuch an dem Überläufer Skripal in Großbritannien sagte Putin, Verräter müssten liquidiert werden. Die Spuren im Fall Skripal sind so wasserdicht, dass es phänomenal ist, wie viele immer noch an eine Verschwörung glauben. Dabei ist so ein Verdacht schon deshalb absurd, weil es wie bei allen Morden dieser Art keinerlei ernsthafte und wirklich schmerzende Schritte oder Sanktionen gegen Putin von Seiten des Westens gab.

Im Polonium-Mord an Alexander Litwinenko sind die Spuren haargenau bis Moskau zurück zu verfolgen. Weil das radioaktive Gift überall Spuren hinterließ. Es war auch in Hamburg. Auch Deutsche waren in Gefahr. Mehr als 3000 Menschen kamen in London mit dem höchst giftigen Atom-Stoff in Kontakt. Das ist Staatsterrorismus. Litwinenko wurde vergiftet, kurz bevor er vor spanischen Richtern aussagen sollte. Zur Petersburger Tambow-Mafia. Zu der Putin nachweislich engste Beziehungen hat (die ich ausführlich in meinem Buch „Putins Demokratur“ belege).

Die britische Regierung wollte den Mord unter den Tisch kehren. Geschäft ging vor. Russische Superreiche sind ein enormer Wirtschaftsfaktor in London. Die Börse dort ist auf Geld aus Russland angewiesen. Auch die Einmischung Russlands vor dem Brexit-Votum hat die Regierung massiv herunter gespielt. Das zeigt, wie absurd es ist, wenn viele glauben, der Westen wolle Putin ans Bein pinkeln. Das Gegenteil ist der Fall. „Der Westen“ bzw. sehr viele dort wollen gute Geschäfte und Milliarden aus Russland. Die Witwe Litwinenkos musste den britischen Staat verklagen, damit er weiter ermittelt. Nur so kam es zu einem Gerichtsverfahren, einer Anhörung. Da entscheid ein britischer Richter: Der Mord muss aus dem Kreml angeordnet worden sein. Die Beweislage war eindeutig. Folgen für Putin: So gut wie keine. Die Botschaft für ihn: Du kommst mit allem durch. Die tun Dir nichts!

Mörder im Parlament

Der Litwinenko-Mörder sitzt übrigens heute im russischen Parlament und wurde von Putin mit einem der höchsten Orden ausgezeichnet. Kurz nach der Ermordung von Nemzow. Dessen Mörder nachweislich Verbindungen zum Tschetschenen-Präsident Kadyrow hatten. Den Putin gleich mit auszeichnete. Was für eine Symbolik. Und danach fordern manche noch eine Unschuldsvermutung für Putin. Jetzt sagte der Litwinenko-Mörder aus dem Parlament: Nawalnij habe nur in Deutschland mit Nowitschok vergiftet werden können. In der Berliner Charité. Der Anschlag sei eine Provokation des Auslands.

Ob Putin Nawalnijs Mord angeordnet hat oder nicht, kann ich nicht sagen. Auch wenn viel dafür spricht in einem System der „Machtvertikale“, das Putin immer wieder beteuert.

Was ich aber klar sagen kann: Putin hat die volle politische Verantwortung. Weil er ein System geschaffen hat, in dem Mörder im Parlament sitzen und ausgezeichnet werden. In dem politische Morde nicht verfolgt werden. In dem Gegner entmenschlicht und als „Faschisten“ dargestellt werden. In dem Nawalnij nach der Vergiftung zunächst nicht ins Ausland gelassen wurde, und nicht einmal seine Frau zu ihm durfte. In dem eine Notlandung des Flugzeugs verhindert werden sollte. In dem jetzt absurde Unterstellungen verbreitet werden. Wie die von der Vergiftung in Berlin. Erschreckend auch, wie viele Claqueure Putin in Deutschland hat, die das treu nachplappern. Wie Gregor Gysi. Der Kadavergehorsam scheint bei manchen so stark, dass man sich bei Bedarf auch selbst zum Idioten macht.

Folgen wird der Mordversuch kaum haben. Sanktionen gegen Weißrussland scheiterten gerade an Frankreich, Italien und Deutschland. Auch bei Nawalnij wird es keine ernsthaften geben. Die Ermordung eines Kreml-Gegners im Tiergarten, wenige Gehminuten vom Kanzleramt entfernt, 2019, führte zur Ausweisung von wenigen russischen Diplomaten. Mehr nicht. Die einzige Gefahr für Putin: Dass er sich totlacht.

Diesmal wird es nicht anders sein. Einer von Merkels größten Coups ist, dass sie sich als Putin-Gegner inszeniert und in Wirklichkeit seine enge Bündnisgenossin ist. Beide ähneln sich. Und nicht zufällig. Sie sind beide in kommunistischen Kaderorganisationen politisch sozialisiert. Merkel hat es geschafft, bei den Menschen den Eindruck zu erwecken, unsere Medien würden Putin schlecht schreiben. Das Gegenteil ist der Fall. Überlegen Sie mal, wer bei uns mehr angegriffen wird von Funk und Presse: Putin oder Trump? Hat Trump ein Nachbarland angegriffen? Kommen bei Trump Gegner ums Leben? Oder ins Gefängnis? Haben Trumps Militärs ein Zivilflugzeug abgeschossen wie Putins Armee über der Ukraine mit rund 300 Toten? Auch hier hat eine unabhängige internationale Untersuchungskommission Russlands Verantwortung festgestellt. Und dennoch ist Putin bei uns um ein Vielfaches beliebter als Trump. Warum wohl?

Erfolgreiche Claqueure

Viele Deutsche sind zu Recht so enttäuscht über die Politik und die Medien in ihrem eigenen Land, dass sie bei ihm alle Augen zudrücken. Das nutzen der Kreml-Chef und seine Claqueure wie Schröder oder Gysi aus. Das Misstrauen gegenüber unseren Medien ist so groß, dass viele glauben, Putin werde genauso diffamiert wie etwa Trump oder die AfD. Mangels Landes- und Sprachkenntnissen können sie nicht ahnen, dass Putin und seine Politik eher verharmlost werden als diffamiert. Ich habe das selbst erlebt. Für den Focus war ich zu (Putin-)kritisch. Und selbst für deutsche Talkshows. Da war die Grenze immer klar: Demokratie-Defizite darf man beklagen. Kriegstreiberei und Mafia-Verbindungen dagegen sind tabu. Ich kenne Kollegen aus großen Redaktionen, die nicht mehr über Putin schreiben durften. Weil sie zu kritisch waren.

Wenn es hart auf hart kam, konnte sich Putin immer auf Merkel verlassen: Sie war es, die den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens behinderte. Sie verhinderte Waffenlieferungen an die Ukraine nach Putins Invasion. Sie drückt Putins wichtigstes Projekt durch, die Nordsee-Pipeline. Sie warnte jetzt vor einer Einmischung in Weißrussland und verhinderte Sanktionen. Worte und Taten gehen bei Merkel – nicht nur bei Russland – so diametral auseinander, wie ich persönlich das nur bei Politikern kenne, die in kommunistischen Kaderorganisationen sozialisiert wurden. Menschen aus dem Westen ohne entsprechende Erfahrungen haben in der Regel keine Chance, das zu durchschauen. Merkel ist Putins beste Frau. Vor allem auch deshalb, weil sie das so geschickt verschleiert.


PS: Ich weiß, dass ich mit diesem Beitrag viele meiner treuen Leser verprellen werde. Aber ich wäre ein schlechter Journalist (und Mensch), wenn ich mir deswegen den Mund verbieten lassen oder ihn auch nur halten würde. Ich bin überzeugt: Alle, die eine demokratische Grundhaltung haben, können damit leben, dass man auch bei bestimmten Themen eine unterschiedliche Meinung hat. Mehr noch: Alles andere wäre beängstigend und kommt nur in autoritären Systemen vor (und wir sind da im Deutschland des Jahres 2020 erschreckend nahe dran). Da ich weiß, dass ich kluge Leser habe, bin ich überzeugt: Ihnen ist es wichtiger, dass ich mir treu bleibe und offen meine Meinung sage, als dass diese Meinung bei allen Themen mit Ihrer Meinung übereinstimmt. In diesem Sinne: Einen schönen Samstag allen und auf Demokratie, Meinungsfreiheit und Pluralismus!

PS: Es gibt Hinweise darauf, dass die Vergiftung scheiterte, weil die Piloten entgegen anderer Anweisungen eine Notlandung in Omsk machten, obwohl ihnen das mit Hinweis auf eine Bombendrohung untersagt worden war. Nawalnijs Leben hatte für sie offenbar Vorrang und sie durchschauten die Taktik des Geheimdienstes. Der Notarzt soll Nawalnij dann direkt am Flugzeug genau das Mittel gespritzt haben, das richtig war für eine Vergiftung – während man nicht weiß, ob das dann im Krankenhaus auch geschah. Viel spricht dafür, dass Nawalnij ohne diese beiden Umstände gestorben wäre. Die Weigerung, ihn zeitnah ins Ausland zu lassen, könnte mit der Verfallszeit des Giftes zu tun haben. Es waren nur noch kaum nachweisbare Spuren vorhanden in Berlin. Laut Marina Litwinenko ist es bei Vergiftungen extrem schwierig, die richtige Dosis zu finden „Zu wenig tötet nicht, zu viel ist sofort nachweisbar“. Auch bei ihrem Mann habe erst der dritte Giftanschlag funktioniert, so die Witwe von Alexander Litwinenko im Gespräch mit mir (unseren Dialog in reitschuster.live finden Sie hier).

Bild: IlyaIsaev/Wikicommons/(CC BY-SA 3.0)
Text: br

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