„Je suis Samuel“, anyone? Die barbarische Enthauptung von Samuel Paty und die seltsam stillen Reaktionen

Ein Gastbeitrag von Matthias Heitmann

Das Entsetzen war groß nach der bestialischen Ermordung und Enthauptung von Samuel Paty durch einen 18-jährigen islamischen Extremisten am 16. Oktober 2020 in Conflans-Sainte-Honorine im Raum Paris. Und es hallt auch immer noch nach, besonders in Frankreich, aber auch in der deutschen Öffentlichkeit. Der 47-jährige Geschichtslehrer hatte im Schulunterricht während einer Diskussion über Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen aus der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ gezeigt. Auf diesen Vorfall bezog sich wenige Tage später sein Henker, als er „Allahu Akbar“ rufend Paty in der Nähe der Schule hinrichtete. Paty wurde Opfer einer religiös motivierten Mordlust, weil er für das Recht auf Meinungsfreiheit eintrat.

Die Ermordung von Paty müsste für jeden Menschen, dem Freiheit und Zivilität etwas bedeuten, eine so abscheuliche Tat sein, dass es eigentlich unvorstellbar ist, darüber nicht entsetzt und erzürnt zu sein. Und dennoch: Erinnert man sich an die weltweiten Reaktionen auf den gewaltsamen Tod von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis, dann fallen erhebliche Unterschiede im Umgang mit beiden Taten auf. Im Fall Floyd wurde europa- und weltweit demonstriert. Im Fall Paty überwiegt hingegen eine eher schweigsame Erschütterung. Die Frage muss erlaubt sein: Ist tödlicher Rassismus in den USA schlimmer als tödlicher Islamismus in Europa? „Je suis Samuel“, anyone?

Es geht nicht darum, zwei Leben und zwei unterschiedliche Morde gegeneinander aufzuwiegen. Auch soll hier nicht gewertet werden, ob Rassismus schlimmer oder weniger schlimm ist als Islamismus. Doch es gibt eine Sache, die noch schlimmer ist, als diese Frage offen zu diskutieren: sie ohne Diskussion durch ein öffentliches Schweigen, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, implizit zu beantworten. Und genau dies geschieht. Woher sonst kommt die auffällige Zurückhaltung im einen und die Bereitschaft zu öffentlichen Massendemonstrationen (in Coronazeiten!) im anderen Fall?

Es scheint, als hielten sich gerade die sich als fortschrittlich und weltbürgerlich verstehenden Teile der deutschen Gesellschaft und Elite im Falle des Franzosen Paty auf eine unangenehm ungerührte Art und Weise für „nicht zuständig“. Bedenklich lange dauerte es, bis erste Stellungnahmen erschienen. Im Fall des US-Amerikaners Floyd war dies anders: Hier kamen die Reaktionen nicht nur emotionaler und absoluter, sondern auch postwendend und türmten sich über Tage und Wochen zu einer Protestwelle auf, die bis heute nachhallt. 

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Im Fall Paty konnte man den Eindruck gewinnen, es eher mit einer routiniert-achselzuckenden Reaktion auf einen weiteren Terroranschlag in Frankreich zu tun zu haben. In manchen Trauerbekundungen tauchte nicht einmal der Name des Opfers auf. George Floyd wurde von der aufgebrachten Öffentlichkeit förmlich in Besitz genommen, der Name Samuel Paty dürfte hingegen recht schnell in der Liste von mehr als 250 Todesopfern islamistischer Gewalt, die Frankreich seit 2015 zu betrauern hatte, verschwinden.

Noch stiller fielen die Reaktionen hierzulande aus, als sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Reaktion auf den Anschlag mit deutlichen Worten für die Verteidigung freiheitlicher und republikanischer Werte aussprach, direkt islamische Fundamentalisten ansprach und in den Tagen danach auch Taten folgen ließ. Solche klaren Statements und Aktionen in Bezug auf das barbarische Treiben radikaler Islamisten sind in Deutschland nur selten zu hören – und schon gar nicht von der Bundesregierung. In weiten Kreisen der Gesellschaft würde man hinter derlei Statements zumeist erzkonservative bis rechtsradikale Motive vermuten, weshalb man lieber davon absieht, sich unter dem Banner der Verteidigung von Grundrechten potenziell mit den falschen Leuten zu versammeln. Mehr Sorgen bereitet vielen die Frage, ob derlei Terroranschläge dazu führen könnten, dass friedliche Muslime zur Zielscheibe von Racheakten werden könnten.

Auch wenn dieses selbstverständlich genauso wenig hinnehmbar wäre wie alle anderen Formen politisch oder religiös motivierter Gewalt, so kann dies dennoch kein Grund dafür sein, inhaltliche Hintergründe von Terrorakten zu verschleiern. Es kann nicht sein, dass Morde, die von Angehörigen einer „Minderheit“ an Angehörigen einer „Mehrheit“ (Paty) begangen werden, anders diskutiert werden als Morde von Mehrheitsvertretern an Angehörigen einer Minderheit (Floyd). Stattdessen aber den Kopf einzuziehen und die Wahrheit nicht zu benennen, hilft weder der Gesellschaft noch den Terroropfern noch denjenigen, die im Zweifel völlig zu Unrecht der Gewalt oder der Mitschuld bezichtigt werden. Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit.

Doch das Problem ist aber nicht nur Verzagtheit, in Konflikten klar Stellung zu beziehen – es ist schlimmer: Denn der Fall Paty zeigt ja, dass de facto durchaus Position bezogen wird. Wenn hierzulande Tausende von Menschen wütend gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA demonstrieren, aber einem Franzosen, der aufgrund seines Engagements für Meinungsfreiheit und Bildung hingerichtet wurde, nicht auch nur annähernd ebenso viel Solidarität bekundet wird, dann ist das ein deutliches Statement. Und dieses gilt es ernst zu nehmen.

Tatsache ist: Die deutsche Öffentlichkeit tut sich mit der Ablehnung von Rassismus leichter als mit der Ablehnung des islamischen Fundamentalismus. Antirassismus ist, wie auch die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, in den letzten Jahren in den offiziellen Kanon der politisch-moralischen Werte eingegangen, die in der Bundesrepublik getrost zur Staatsräson gezählt werden können. Antirassistische and antidiskriminatorische Rechtsprechung und Verhaltensweisen sind nicht nur öffentlicher Standard, sondern werden auch von einer Mehrheit der Menschen erwartet und praktiziert. Verstöße gegen diesen Konsens rufen moralische Empörung hervor und ziehen Proteste und staatliches Handeln nach sich. 

Vergleichbar harte Reaktionen auf Verstöße gegen derartige Prinzipien bleiben jedoch häufig dann aus, wenn dies zu einer Kollision mit sich auf den Islam berufenden Traditionen führen könnte. So laut gegen Sprachdiskriminierung gewettert wird, so stillschweigend werden Zwangsehen und Zwangsverschleierung von der breiten Öffentlichkeit hingenommen. Der Vorwurf, Kritik an derlei Praktiken könne als rassistisch, islamophob oder minderheitenfeindlich interpretiert werden, ist so präsent, dass es so gut wie keine öffentlichen Proteste gegen diese Formen von Diskriminierung in Deutschland gibt.

Hinzukommt, dass die Dominanz des Antirassismus und der geschlechtlichen Antidiskriminierung im bundesrepublikanischen Wertekanon Konsequenzen für demokratische Freiheitsrechte hat: So ist es gerade die Meinungsfreiheit, die immer wieder und auch immer häufiger den Kürzeren zieht. Nicht nur das: Sie ist in den letzten Jahren zunehmend in Verruf geraten und gilt mittlerweile als Gefahrenquelle, die unbedingt zu kanalisieren und zu beschneiden ist, um den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren. Die Fälle, in denen selbst prominente Provokateure des Mainstreams oder aber Religionskritiker Auftritts- oder Redeverbote zu spüren bekommen, ausgeladen, angefeindet oder gar angegriffen werden, machen es deutlich: Meinungsfreiheit, Toleranz und die Bereitschaft, Andersdenkenden dieselben Rechte zuzugestehen, die man selbst genießt, stehen nicht hoch im Kurs – von Blasphemie, radikaler Kritik und harter Satire ganz zu schweigen.

Es ist dieser gesellschaftliche Zusammenhang, der seit einigen Monaten als „Cancel Culture“ bezeichnet wird, in dem auch die Ermordung von Samuel Paty sowie die Reaktionen darauf zu sehen sind. Die Ermordung des Lehrers und die gedämpfte Reaktion darauf stehen sinnbildlich für zwei der bedrohlichsten Entwicklungen in Europa: den islamischen Extremismus und die sich ihrer eigenen Werte und Freiheitsrechte beraubende „Cancel Culture“, die letztlich nichts anderes ist als die politische und intellektuelle Selbstaufgabe der westlichen Zivilisation. Diese beiden Phänomene wirken wie zwei Schenkel einer Zange, die im Begriff ist, die Meinungsfreiheit zu zerquetschen. In ihrem Umgang mit Andersdenkenden zeigen beide Phänomene erstaunliche Parallelen – was auch erklärt, warum sich gerade die kosmopolitisch orientierten politischen und kulturellen Eliten so schwer damit tun, den islamistischen Terror beim Namen zu nennen und Patys Einsatz für Meinungsfreiheit uneingeschränkt zu huldigen. 

Wenn eine Gesellschaft sich aber selbst einen immer engeren Horizont setzt und immer mehr für „unsagbar“ erklärt, dann wird dies religiös oder anderweitig motivierte Extremisten nicht befrieden, sondern ermuntern, ihr barbarisches Tun zu intensivieren. Mehr noch: Die Enthauptung von Paty war die radikalislamische und terroristische Umsetzung dessen, was die westliche Annullierungskultur mit scheinbar zivilen Mitteln und aus Angst tut: die Ausschaltung eigenständig und andersdenkender Köpfe. Wenn wir uns selbst keine Meinungsfreiheit zubilligen und uns stattdessen selbst zum Schweigen bringen und fesseln, dann verlieren wir als Gesellschaft die Fähigkeit, uns gegen religiös oder politisch motivierte Henker zu wehren, und zwar sowohl inhaltlich als auch praktisch. Lassen wir nicht zu, dass der Zangenangriff auf die Meinungsfreiheit erfolgreich ist.


© Thomas Kießling, www.lichtrichtung.de

Matthias Heitmann (Jahrgang 1971) ist freier Journalist, Speaker und Autor zahlreicher Bücher, die sich mit aktuellen politischen Themen und dem Zeitgeist auseinandersetzen, u.a.: „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (2015), „Zeitgeisterjagd spezial: Essays gegen enges Denken“ (2017) und „Schöne Aussichten. Die Welt anders sehen“ (2019). Zudem geistert er als „Zeitgeisterjäger FreiHeitmann“ mit eigenen Soloprogrammen über Kleinkunst- und Kabarettbühnen. Seine Website findet sich unter http://www.zeitgeisterjagd.de.

 

 

 

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Bild: BlackMac/Shutterstock / Thomas Kießling/www.lichtrichtung.de
Text: Gast


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