US-Wahl: Weg in den „sanften Sozialismus“? Warum bei dem Urnengang so viel auf dem Spiel steht

Ein Gastbeitrag von Felix Dirsch

Wie bei allen Wahlen haben auch am 3. November sowohl lang- als auch kurzfristige Entwicklungen Einflüsse auf das Ergebnis. Zu letzteren zählen die Corona-Pandemie und ihr Management. Die Opposition wittert Morgenluft und erkennt hier die Achillesferse des amtierenden Präsidenten. Man spricht von über 200.000 Corona-Toten, wobei unklar ist, ob es sich um Menschen handelt, die „an“ oder „mit“ Corona oder an den Folgen der Maßnahmen verstorben sind. Diese Unterscheidung ist für die nähere Charakterisierung der Seuche nicht zu vernachlässigen. Denn es ist zu vermuten, dass das Corona-Management wahlkampfentscheidend ist.

Trotz heftig attackiertem Corona-Management, Trumps Erfolge sind auf etlichen Feldern unstrittig: so seine Wirtschaftspolitik bis zum Beginn der Seuche, was bis Anfang 2020 immerhin sieben Millionen neue Arbeitsplätze brachte; seine Steuerreform; die Zurückdrängung der Zuwanderung; keine Kriege, was vielleicht den größten Unterschied zu seinen Vorgängern macht; Standfestigkeit gegenüber dem Handelsriesen China.

Selbst der Umgang mit dem Virus und den Folgen wirft ein Schlaglicht auf die Spaltung der US-Gesellschaft. Beim Duell des Vizepräsidenten mit der „Running Mate“ John Bidens setzte Mike Pence primär auf das verantwortliche Verhalten der Bürger, während Senatorin Kamala Harris mehr staatliche Regelungen forderte.

 

Wenngleich die Wahlentscheidung im Jahre 2020 nicht zur Schicksalswahl zu stilisieren ist, lässt sich doch in groben Linien absehen, wie künftige Entwicklungen aussehen dürften: Behält die persönliche Freiheit einen herausragenden Stellenwert oder wird sie immer stärker von politischer Korrektheit sowie Gruppen- und Identitätspolitik depotenziert?

Keinem aufmerksamen Beobachter der letzten Monate ist entgangen, mit welcher Vehemenz die Linke mit ihren radikalen Stoßtrupps (Black-Lives-Matter-Bewegung!) die eigene Hegemonie festigen will: mit Unruhen in den Städten, mit wütender Denkmalstürmerei, mit Kampf gegen die Erinnerungskultur des eigenen Landes, mit der Diffamierung des Gegners als rassistisch. Vertreter der Demokraten haben stets ihre Sympathie für diese Aktionen bekundet. Dass die Linke in den Debatten um Charlottesville 2017 einen Sieg erringen konnte, hängt auch mit der mangelnden Unterstützung führender Republikaner für „ihren“ Präsidenten zusammen. Dieser hat sich von gewalttätigen Extremisten auf beiden Seiten zwar distanziert, nichtsdestoweniger für radikale Ikonoklasten und andere Gewalttäter auf der Linken wenig Sympathien entwickelt. Neben solchen Protestaktionen ist eines evident: Gerade die führenden jüngeren US-Demokraten sind stärker vom Gedankengut der Frankfurter Schule infiltriert, als gemeinhin angenommen wird. Besonders für den Nachwuchsstar Alexandria Ocasio-Cortez scheint dieser Einfluss zuzutreffen, aber letztlich gilt dies für viele junge Bernie-Sanders-Fans.

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Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums existieren Hinweise auf ideologische Verhärtungen. Die „Birther“, darunter Trump, behaupteten schon vor Jahren, Barack H. Obama sei außerhalb der USA geboren und daher kein legitimer US-Präsident gewesen. Und beim Nominierungsparteitag der Republikaner 2016 ertönten Rufe, die bewusst die Kandidatin Hillary Clinton diskreditierten: „Sperrt sie ein!“ Weitere Beispiele existieren in Hülle und Fülle.

Welche Gründe für die zunehmenden Bruchlinien der USA sind zu erkennen? Moderne ausdifferenzierte Gesellschaften sind besonders anfällig für weltanschauliche Konflikte. Bereits Max Weber konstatierte um 1900 einen „Polytheismus der Werte“, der schnell zum Bürgerkrieg führen könne. Wohl hatte er damit zuerst die USA im Blick, die er auf einer längeren Reise kennengelernt hatte. Seine damaligen Bürgerkriegserfahrungen blieben bis heute gültig – allen Wandlungen zum Trotz. Vergangenes kann vor neuen Hintergründen schnell wieder Aktualität erlangen. Manche Kommentatoren sehen durchaus Anzeichen für ein solches zukünftiges Szenario, etwa im Rahmen eskalierender rassischer und sozialer Konflikte (beides überlagert sich vielfach).

Selbst die Tötung eines Kleinkriminellen, die keinesfalls zu billigen ist, entzündete einen Flächenbrand, der einen neuen Bürgerkrieg nicht ausschließt. Dabei blickt die Presse gern über die Ermordung eines Trump-Anhängers, wie jüngst in Denver geschehen, hinweg. Von „White-Lives-Matter“-Ausschreitungen war nach der Bluttat nichts zu bemerken. Dessen ungeachtet darf man allerdings die gesellschaftsverbindenden Faktoren nicht unterschätzen. Über lange Zeiträume hinweg hielt der „steigende Wasserspiegel des Wirtschaftswachstums“ (Todd Huizinga) die Boote über Wasser, zumal der Glaube verbreitet ist, dass jeder durch Anstrengungen und günstige Umstände zu den Nutznießern der Freiheit gehören und Wohlstand schaffen könne. Weiterhin generieren kulturchristliche Hintergründe, meist verbunden mit patriotischen Überzeugungen, wesentliche Ressourcen für den sozialen Zusammenhalt. Diese Fundamente bröckeln aber langsam seit den 1960er Jahren.

Bereits vor vier Jahren führte die Entscheidung zugunsten Trumps allen vor Augen, dass neuere tektonische Verschiebungen jenseits der traditionellen Gegensätze verlaufen. Das Establishment der Republikaner wollte das Enfant terrible verhindern und unterschied sich insofern von den Führern der Demokraten höchstens graduell. Der britische Publizist David Goodhart bringt die zentrale Kluft vor dem Hintergrund des Brexits auf einen idealtypischen Nenner: Die Anywheres, die „Überallmenschen“, sind überwiegend jung, gut ausgebildet, mobil, progressiv-liberal, multikulturell und globalisierungsfreundlich ausgerichtet. Ihre Präferenz gilt der offenen Gesellschaft. Ihnen stehen die „Somewheres“, die „Ortsmenschen“, gegenüber. Sie sind familiär und arbeitsmäßig an bestimmte Regionen gebunden, oftmals ohne akademischen Abschluss. Auch besitzen sie in aller Regel einen engeren Bezug zu ihrem Land und ihrem Herkunftsvolk, ebenso zur Religion. Identität, auch nationale, ist für sie kein Fremdwort. Die Massenmigration empfinden viele von ihnen als Bedrohung.

Für manche mag sich diese definitorische Abgrenzung zu akademisch anhören. Sie spielt in der politischen Arena jedoch eine nicht unwesentliche Rolle. Während Trump den „Sumpf“ des Washingtoner Establishments trockenlegen wollte, äußerte seine Konkurrentin von 2016 ihre Verachtung für die Trump-Unterstützer, den „basket of deplorables“. Solche Polemik offenbart einiges über die Unversöhnlichkeit der Auffassungen.

Selbst die großen Parteien der USA, die traditionell mehr Gemeinsamkeiten entwickelt haben als die beiden herkömmlichen Weltanschauungsparteien der Bundesrepublik, driften seit Jahren immer mehr auseinander. Einer der diversen Gründe dafür ist die viel zitierte Filterblase. Sie schirmt oft vor Informationen von der anderen Seite ab, so dass man immer weniger von den Beweggründen und Motiven des Gegners weiß.

Aus konservativer Perspektive ist die Priorität der Identitätspolitik eine Gefahr für das Zusammenleben. Es droht eine Parzellierung der Bevölkerung vor allem entlang den Bruchlinien Sexualität, Geschlecht und Ethnie. Die lange Zeit vermeintlich benachteiligten Minderheiten sind längst dabei, mittels positiver Diskriminierungen zum Herrschaftsinstrument zu mutieren. Quotenregelungen existieren in manchen Ländern der westlichen Welt wie in den Niederlanden, die Vorreiter hierfür sind, praktisch für alle Gruppen: Frauen, Migranten, Behinderte, Homosexuelle und so fort. Tendenzen in dieser Richtung zeigen sich auch in den USA. Natürlich regen sich gegen derartige Zerfaserungen Widerstände. Der wahre Kern des Rechtspopulismus liegt neben der Reaktion auf die neoliberale Umwidmung der Heimat zum Produktionsstandort im Widerstand gegen eine derartige Gängelung der Mehrheit durch mehr und mehr privilegierte Minderheiten, die sich allein durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Kommunitäten definieren.

Das verabsolutierte „right to choose“ markiert mehr und mehr auch in den USA ein prioritäres Staatsziel. Selbst die Wahl des eigenen Geschlechts wird offen debattiert. Diese postmoderne Pluralitäts- und Individualitätsvergötzung endet nach der Zwischenstation Relativismus fast zwangsläufig im Nihilismus – egal ob in einer fröhlichen oder traurigen Variante. Weber und Nietzsche fungieren als Gewährsmänner. Von den Rechten der privilegierten Gruppen führt in dieser Perspektive eben kein Weg mehr zurück zu Gemeinschaft und Staat. Universalien wie die Menschenrechte oder -würde sind in solchen Entwürfen bestenfalls sekundär. Eine Zivilgesellschaft, die für solche Negation extrakommunitärer Solidarität zahllose Anhänger rekrutieren kann, ist als „erkrankte“ (Huizinga) charakterisiert worden. Sie bedarf der Gesundung, die jedoch wenig wahrscheinlich ist. Der Trend zur Abkapselung wird sich wohl noch verstärken.

Natürlich werden solche Tendenzen nicht nur von einer politischen Gruppierung befürwortet. Allerdings haben die US-Demokraten dieser Richtung besonders nachhaltige Unterstützung versprochen. Eine derartige Trendverstärkung nach einer etwaigen Regierungsübernahme bedeutete einen ebenso starken Abgesang auf die traditionell freiheitliche Fundierung des Landes wie der von Progressiven bevorzugte „sanfte Sozialismus“. Hier lässt sich eine Linie absehen: Sie dürfte von „Obamacare“ zum Green New Deal führen, der unter dem Vorwand so genannter Klimaschutzmaßnahmen und der Erschließung neuer Energiequellen weltweit Umverteilungssummen in Höhe von einigen Billionen Dollar verpulvern dürfte. Die in der Vergangenheit öfter zu hörende Klage über Dissonanzen zwischen Europa und den USA dürfte dann verstummen – jedenfalls im Hinblick auf große Projekte.


Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.


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Professor Dr. Felix Dirsch lehrt Politische Theorie und Philosophie. Er ist Autor diverser Publikationen, u.a. von “Nation, Europa, Christenheit” und “Rechtes Christentum“. Dirsch kritisiert unter anderem den Einfluss der 68er-Generation und der „politischen Korrektheit“.

2020 erschienen die Bücher: „Die Stimmen der Opfer. Zitatelexikon der deutschsprachigen jüdischen Zeitzeugen zum Thema: Die Deutschen und Hitlers Judenpolitik“ (zusammen mit Konrad Löw) und „Rechtskatholizismus. Vertreter und geschichtliche Grundlinien. Ein typologischer Überblick“.

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Bild: Ververidis Vasilis/Alexandros Michailidis/Shutterstock
Text: gast

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